Kapitel 19

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In den folgenden Stunden, in denen Reginald mit Lilia plauderte, uns unsere Zimmer zeigte und uns sogar etwas zu Essen machte, war ich geistig so abwesend wie schon seit Jahren nicht mehr. Mein Kopf, meine Seele war in der Bibliothek, bei der Arbeit meines Vaters. Ein Bild, wie er über die verschiedenen Bücher gelehnt da saß und auf Zettel seine neuesten Erkenntnisse schrieb, wollte einfach nicht aus meinem Kopf gehen. Ich fragte mich, woran er gearbeitet hatte. Und warum er all das einfach liegen gelassen hatte, als er mich in die Stadt zu seiner Cousine bringen wollte. Hatte er gedacht, er würde zurück kommen? Hatte er wirklich vor, mich nur ein paar Tage bei Mira zu lassen und mich dann wieder zu sich zu holen? Ich wollte es glauben, aber da war eine kleine Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüsterte, dass ich mir selbst etwas vormachte. Und vielleicht hatte diese Stimme ja auch recht. Vielleicht wollte ich einfach daran glauben, dass mein Vater mich bis zum Schluss nicht belogen hatte. 

Abends saß ich noch lange Zeit, nachdem Reginald wieder gefahren war, schweigend in dem großen Wohnzimmer auf dem beigen Sofa mit den vielen braunen und weißen Kissen darauf. Richard hatte ich dabei nur einmal ganz kurz gesehen, als er durch eine Seitentür in das Haus kam und auf seinem Weg in die Küche an der offen stehenden Tür vorbei gekommen war. Er hatte mir lediglich einen kurzen Seitenblick zu geworfen, bevor er mir kurz grüßend zu nickte und dann verschwand. Doch komischerweise war mir das fast schon lieber, als Reginalds komische offene und fröhliche Art, die er versucht hatte den ganzen Tag über aufrecht zu erhalten. Dabei hätte ich ihn am liebsten angeschrien, er solle mich einfach in Frieden lassen und wieder fahren. Der Grund, weshalb ich es jedoch nicht getan habe, war der Fakt, dass sich Lilia mit seiner Anwesenheit sichtlich wohler zu fühlen schien. Nach meiner Aktion bei der Tankstelle hatte ich ehrlich gesagt aber auch nichts anderes erwartet. Deshalb war es auch nicht weiter verwunderlich, als sie direkt nach Reginalds Abfahrt mit einem kurzen Blick in meine Richtung nach oben verschwand und sich mittlerweile wahrscheinlich schon in ihrem Zimmer verschanzt hatte.

Seufzend fuhr ich mir mit meinen Händen durch meine Haare. Vermutlich war ich die Situation komplett falsch angegangen. Auch wenn ich nur das Beste für Lilia gewollt hatte, schienen meine Worte sie stärker verletzt zu haben, als eigentlich beabsichtigt war.  Ich wollte sie nur von mir fernhalten. Sie hatte ein besseres Leben, ein eigenes Leben, verdient. Und ich war ihr dabei schlicht und ergreifend im Weg. Doch wie hätte ich ihr das begreiflich machen sollen? Sie hätte es niemals akzeptiert, wenn ich sie deswegen darum bitten würde, von mir Abstand zu halten. Oder nicht?

Als mir bewusst wurde, dass sich meine Gedanken begannen im Kreis zu drehen, beschloss ich, mich auch allmählich in mein Zimmer zu begeben. Die Flure waren dunkel und ich machte mir auch nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Manchmal genoss ich die Dunkelheit fast noch mehr als die warmen Sonnenstrahlen, denn Dunkelheit war anders als die völlige Finsternis. Finsternis löste Einsamkeit aus, Angst und Panik, weil man nicht einmal sehen konnte, wohin man ging. Doch die Dunkelheit verhieß Ruhe, Zeit zum Alleinsein und Nachdenken. Man konnte noch die Schemen der Gegenstände, des Ortes, an dem man sich befand, erkennen. Irgendwie war alles in einer seltsamen Schwebe zwischen bekannt und fremd. In gewisser Weise spiegelte es Unsicherheit wieder. Aber jeder war irgendwann mal in seinem Leben unsicher. Einiger halt häufiger als andere. Und manchmal brauchte man diese Unsicherheit, diesen merkwürdigen Zustand zwischen Einsamkeit und Hoffnung mehr als die Hoffnung selbst, die ich jedes Mal verspürte, wenn ich einen Sonnenaufgang mitbekam. Die Sonne war jahrelang meine Hoffnung darauf gewesen, dass sich alles schon wieder irgendwie wieder einrenken würde. Nur war ich mir da mittlerweile nicht mehr so sicher.

Als ich in dem Gang mit den Gästezimmern kam, wurde mir mit einem Mal bewusst, was sich hier noch befand. Die Bibliothek. Mitten im Schritt blieb ich stehen und sah wie gebannt auf die dunklen Doppeltüren nicht weit von mir entfernt. Vielleicht sechs oder sieben Schritte, dann könnte ich die Tür öffnen und hinein gehen. Könnte mir die Notizen meines Vaters durchlesen. Mehr über ihn erfahren. Wie ferngesteuert setzten sich meine Beine wieder in Bewegung, doch als ich vor den Türen zum Stehen kam, zögerte ich. 

War das, was dort geschrieben stand, überhaupt für meine Augen bestimmt? Durfte ich es überhaupt sehen, oder wollte mein Vater seine Forschungsergebnisse vor mir geheim halten? Würde er noch leben, hätte er mir seine Papiere gezeigt oder vor mir versteckt? All diese Fragen und ähnliche kamen in einem Bruchteil einer Sekunde und ließen mich vollkommen unschlüssig zurück. Meine Hand lag auf der Klinke, doch ich hatte das Gefühl, nicht genug Kraft zu besitzen, sie herunter zu drücken. Ich konnte es nicht. Nicht solange ich nicht wusste, ob ich damit gegen den Willen meines Vaters handeln würde. 

Worauf wartest du?

Mein Kopf fuhr in die Höhe, bewegte sich nach rechts und links, doch der Flur war nach wie vor leer. Keine Menschenseele war zu sehen. Werde ich verrückt?

Du willst es doch wissen, oder nicht?

>Wer ist da?< Hektisch huschten meine Augen von einem schemenhaften Schatten zum nächsten, nahmen jedoch nichts, was der menschlichen Silhouette ähnlich gesehen hätte, wahr. Und doch war da diese Stimme.

Du wirst deine Antworten nicht finden, indem du hier stehst und darauf wartest, dass dein Vater dir die Erlaubnis erteilt. Er ist tot. Er kann dir keine Antworten mehr geben. Nur seine Aufzeichnungen können das.

Ich hatte keinen blassen Schimmer, woher diese Stimme kam oder ob mein Hirn einfach den Geist aufgegeben hatte und ich nun bereits Stimmen hörte. Doch irgendwie befiel mich das Gefühl, dass die Stimme recht hatte. Ich wollte, ich brauchte Antworten und die befanden sich vielleicht genau hinter diesen Türen. >Alles in Ordnung?< Wie von der Tarantel gestochen zuckte ich zusammen und fuhr herum, im festen Glauben mir auch diese Stimme nur einzubilden. Doch da stand jemand. Um genauer zu sein stand dort Richard, der seinen Blick zwischen mir und der Tür zur Bibliothek wandern ließ. Als ich begriff, dass er mir eine Frage gestellt hatte und ich ihn bis dato nur ansah, als wäre er der Teufel höchstpersönlich, sprach er jedoch schon weiter. >Ich habe seine Bücher nicht angefasst, seit ich auf seiner Beerdigung war. Ich wollte seine Arbeit nicht zerstören. Auch wenn ich denke, dass er wollte, dass sich jemand seinen Forschungen annehmen würde< Seine Augen wanderten zu meinen, hielten meinen Blick fest, bevor er sich schließlich abwandte und im Dunkeln des Flures zu verschwinden drohte. Doch bevor dies geschah, blieb er noch ein letztes Mal stehen und meinte: >Da drin sind auch seine Tagebücher, nun ja zumindest die meisten. Ich denke, er würde wollen, dass diejenigen, die er zurück gelassen hat, zumindest wüssten, warum er so früh den Tod gefunden hat. Und ich glaube daran, dass er wollte, dass sein Sohn seine Forschungen wieder aufnimmt und die Wahrheit erfährt, der er auf der Spur war< Dann war er weg. 

Vermutlich war er zurück in sein Zimmer gegangen, was auch ich zuvor noch vorgehabt hatte zu tun. Jedoch hatte er mir eine Antwort gegeben. Ein Ziel. Und deshalb drehte ich mich wieder um, drückte die Klinke hinunter und trat in die Bibliothek, die komischerweise noch hell erleuchtet war, ein. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss.  


Die Magier - Der König (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt