24.12.16; Heilig Abend

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Die Autofahrt zu Ryans Eltern dauerte knapp eine Stunde, obwohl sie mir eher wie ein ganzer Tag vorkam. Meine Nerven lagen blank seitdem wir meine Wohnung verlassen hatten. Meine Güte, ich würde gleich die Eltern meines Nachbarn kennenlernen, den ich selbst erst etwas länger als einen Monat kannte und das auch noch am Heilig Abend!

Ich kam mir vor, wie ein verlorenes Hündchen, das Ryan nicht am Straßenrand hatte sitzen lassen können, auch wenn er nicht so wirklich wusste, was jetzt mit mir anzufangen. Obwohl mir Ryan eigentlich gar keinen Grund gab mich so zu fühlen.

Er benahm sich völlig normal, während er bei einem guten Song im Radio die Musik lauter drehte oder mich auf besonders schöne Weihnachtsdeko aufmerksam machte. Aber alles was er mir sagte, hätte er genauso gu t seinem Lenkrad erzählen können. Die Worte kamen zu meinem einen Ohr rein, wurden von möglichen Horrorszenarien und panischen Stimmen in meinem Kopf überlagert und krochen dann völlig misshandelt wieder aus meinem anderen Ohr heraus.

Irgendwann hielt ich es schließlich nicht mehr aus und jede mir auch nur im Ansatz wichtig erscheinende Frage blubberte aus mir heraus, von wie seine Eltern heißen und ob er Geschwister hat bis zu deren Lieblingscornflakes. Wer wusste schon, ob ich nicht morgen als dankeschön allen Frühstück richten würde?

Abgesehen von einem dauerhaft belustigten Grinsen auf seinem Gesicht beantwortete mir Ryan alles, ohne darauf einzugehen wie seltsam einige Fragen waren, sodass ich mich, als wir schlussendlich vor einem großen Einfamilienhaus parkten nur noch in die Gebüsche übergeben wollte und nicht mehr vors nächste Auto springen.

Aber meine alles übertünchende Nervosität außeracht gelassen, freute sich ein Teil in mir mehr als nur ein bisschen auf den kommenden Abend. Diese... Sehnsucht war sogar so stark, dass Ryan mich nicht mal aus dem Auto zerren musste, sondern ich ihm etwas zögernd folgte.

Als er jedoch schlussendlich auf der putzigen Willkommen-Fußmatte stand und auf die Klingel drückte, konnte ich mich nicht davon abhalten meine Hände in seiner Jacke am Rücken zu krallen.

Die plötzliche Berührung, ließ ihn zusammenzucken und ich dachte schon, er wolle meine Hand angewidert abschütteln, als er hinter sich griff, doch stattdessen schloss er seine Finger nur um meine und drückte sie aufmunternd. Und dafür war ich ihm in den Sekunden bis sich die Tür öffnete unglaublich dankbar. Mein Herz drohte zu kollabieren.

„Ryan! Wie schön, dass ihr es endlich hergeschafft habt! Kommt rein, kommt rein, das Essen ist schon fertig."

Innerhalb von Sekunden wurden wir in den wohlig warmen Flur gezogen, sodass ich noch gar keine Zeit hatte, genau zu erkennen wer da überhaupt sprach, bis mir schon aus der Jacke geholfen wurde.

„So, die will ich dir mal kurz abnehmen. Nenne mich übrigens gerne Joyce, ich steh nicht so auf förmliche Anreden. Und Ryan hat gemeint du heißt Maggie? Ein wirklich süßer Name, passt wunderbar zu dir, meine Liebe. Schön, dass du mitgekommen bist, ich koche eh immer viel zu viel."

Wie ein Wirbelwind schoss Ryans Mutter - oder zumindest ging ich davon aus, dass es Ryans Mutter war - um mich herum und ließ dabei nur einen rotgefärbten Pixiehaarschnitt erahnen, dem ich völlig überrumpelt hinterherblickte. Als dann auch noch ein kleiner Junge auf Ryan zugeschossen kam und sich an dessen Bein klammerte, während er freudig „Onkel Ryan!" brüllte, wurde es in dem schmalen Hausflur wirklich eng und so lebendig, dass ich nicht anders konnte als voller entzücken zu grinsen.

Ryan, welcher durch die Attacke des kleinen Kerls ein Schritt nach hinten schwankte, ließ meine Hand los um den süßen Knirps mit einem stolzen Lächeln auf den Arm zu nehmen und obwohl ich nun keine Ahnung hatte, wohin mit meinen Händen, fühlte ich mich kaum unbehaglich. Wie auch, wenn jeder um einen Geborgenheit und Liebe ausstrahlte?

„Herrje, was gibt dir meine Schwester denn zu essen? Vor zwei Monaten warst du doch mindestens einen Kopf kleiner!"

Liebevoll strich Ryan dem Jungen die braunen Locken aus den Augen, was diesen zum Kichern brachte, doch mir blieb keine Zeit mehr, die vertrauliche Szene weiter zu beobachten, denn Joyce hatte inzwischen unsere Jacken aufgehängt und hakte sich nun bei mir unter, um sich an Ryan voreizudrücken und mich gleichzeitig mitzuziehen.

„Beeilt euch ein bisschen, die anderen warten schon! Es gibt Gans und ich will mich ja nicht selbst loben, aber sie ist wirklich ganz zart geworden."

„Das ist sie jedes Jahr, Mom."

Ryan kam mit dem kleinen Kerl noch immer auf dem Arm seiner Mutter und mir hinterher und verdrehte grinsend die Augen, als er meinen Blick bemerkte.

Schnell drehte ich mich wieder um und biss mir auf die Lippen, um nicht wie eine Idiotin zu grinsen, obwohl ich befürchtete, dass das nicht allzu viel brachte.

Joyce führte mich durch ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer vorbei am geschmückten Weihnachtsbaum zu dem Esszimmer, in dem tatsächlich schon ein Mann mit graumelierten Haar, den ich als Ryans Vater einschätzte, und ein Pärchen, vielleicht noch mal zwei drei Jahre älter als Ryan, warteten.

Hätte mich Joyce nicht einfach weiter gezogen, wäre ich bestimmt unsicher stehen geblieben, doch so wurde ich sofort zu der langen Seite des Tisches geführt, gegenüber von dem Pärchen, die bestimmt die Eltern des kleinen Jungen waren, bevor sie mit mir stehen blieb und mir mütterlich die Hände auf die Schultern legte. „Also, das ist Maggie. Und Maggie, das ist Simon mein Ehemann..." Als Herr des Hauses saß Simon am Kopfende direkt neben mir und reichte mir freundlich lächelnd die Hand. „Schön dich kennen zu lernen." „Gleichfalls."

„... und das sind meine Tochter Grace und ihr Mann Josh zusammen mit ihrem Sohn Sam."

Auch die beiden reichten mir ihre Hand, wobei Grace sich erheben musste, da sie diagonal gegenüber von mir saß, und enthüllte dabei eine runden Babybauch.

„Oh! Meinen Glückwunsch!" Sie lachte hell auf, was mich sofort an Ryan erinnerte und legte in einer beschützenden Geste eine Hand auf ihren Bauch.

„Wenn es doch nur geplant gewesen wäre..." Das sanfte Lächeln auf ihrem Gesicht nahm dem Kommentar jegliche Schärfe.

Bevor eine unangenehme Stille entstehen konnte, drückte mich Joyce auf meinen Stuhl und düste schon wieder ab, zu einer zweiten Tür, die wohl vom Esszimmer in die Küche führte.

„So, dann kann der Festschmaus ja beginnen!"

Und ab dem Moment, in dem Ryan Sam auf seinem Platz absetzte, um dann neben mir Platz zu nehmen und mein Bein einmal aufmunternd zu drücken, befand ich mich auf einmal mitten in einem Familienfest und zwar nicht als die Fremde oder als Ballast. Eher so, als gäbe es nichts Normaleres.

Weihnachtsglück nebenanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt