18.12.16; 4. Advent

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Wir waren inzwischen schon Stunden auf der Weihnachtsfeier... und ich musste sagen, es war gar nicht so schlimm. Ok, wahrscheinlich hatte ich das Ryan zu verdanken, der es innerhalb der ersten fünf Minuten geschafft hatte mehr Kontakte aufzubauen, als ich, seitdem ich hier angefangen hatte. Der Typ war wie ein Magnet!

Und als sein Anhängsel wurde es auch mir nicht langweilig.

Ich hatte bereits mehrere Ehepartner meiner Kollegen kennengelernt und war sogar zu einem persönlichen Du mit meinem Chef gekommen! Da musste wirklich viel Alkohol im Punsch sein. Von dem Ryan, ganz verantwortungsbewusster Fahrer, natürlich nichts trank. Ich selbst hatte auch nur ein, zwei Gläschen getrunken. Nicht genug, als dass ich mich, um mein Benehmen sorgen müsste.

Allerdings waren schon diese geringen Mengen meiner Koordinierung beim Tanzen nicht gerade förderlich.

Ich entschuldigte mich jetzt wahrscheinlich schon das fünfzigste Mal bei Ryan und das nur in der letzten Minute!

„Oh Gott, lass uns lieber aufhören, bevor ich dir noch die Zehen breche." Stöhnend versuchte ich mich von ihm loszumachen, aber mit seiner Hand auf meiner Taille hatte er mich vollkommen im Griff und war anscheinend nicht gewillt mich gehen zu lassen.

„Als könntest du das überhaupt, du Fliegengewicht", witzelte Ryan und strahlte mich mit seinem üblichen Lächeln an.

Kritisch zog ich meine Augenbrauen zusammen, ließ mich aber lieber nicht auf diese Diskussion ein. Stattdessen konzentrierte ich mich wieder auf meine Füße, die tollpatschig durch die Gegend tippelten.

„Wieso musst du aber auch zu der aussterbenden Art tanzender Kerle gehören?"

„Weil ich einfach fantastisch bin."

Mit einer geschmeidigen Bewegung hob mich Ryan hoch und wirbelte mich einmal herum, sodass ich mich mit einem erschrockenen Aufschrei an seinen Schultern festklammerte, obwohl ich keine Sekunde später wieder auf meinen Füßen stand. Gleichzeitig wechselte auch der Song... absolut klischeehaft zu einem langsamen Pianostück.

Okay, das war dann wohl unser Stichwort. Es war an der Zeit die Tanzfläche zu verlassen.

Doch bevor ich Ryan meinen Beschluss mitteilen konnte, gefror mir das Blut in den Adern, als ich plötzlich die Melodie erkannte. Nein, nein das konnte doch nicht wahr sein.

Gefangen in meinem Schrecken wehrte ich mich nicht gegen Ryan, als er mich näher zu sich zog.

„Ich gehe mal davon aus Walzer ist auch nicht deine Stärke?"

Nicht, dass er auf meine Antwort gewartet hätte. Stattdessen begann er schon uns langsam im Takt vor und zurück zu wiegen, während ich noch immer zu nichts weiter fähig war, als mich in seinem Shirt festzukrallen. Die Melodie des Liedes trug mich weg, ohne dass ich es verhindern konnte. Zurück zu den schönsten und schlimmsten Erinnerungen meiner Vergangenheit.

Außerstande mich des Soges zu entziehen lehnte ich meinen Kopf an Ryans Schulter, der mich weiterhin aufzog, doch ich nahm seine Worte gar nicht richtig wahr. Stattdessen sah ich die beiden Feste vor mir. Zur gleichen Jahres Zeit, mit den gleichen Menschen – doch zu völlig gegensätzlichen Anlässen.

„" war das Hochzeitslied meiner Eltern. Naja, nicht ihrer ersten Hochzeit. Sie hatten ihr Ehegelübde am zwanzigsten Jahrestag erneuert. Da war ich neunzehn gewesen.

Als man mich dann fragte, ob es ein besonderes Lied für ihre Beerdigung gäbe, hatte ich den Refrain des Liedes nicht mehr aus meinem Kopf bekommen. Ihnen hätte das gefallen. Ein Zeichen dafür, dass sie auch im Tod vereint waren. Also hatten wir es an diesem Tag gespielt. Und ich es noch einen ganzen Monat lang jeden Abend, wenn ich schlafen ging.

Ich musste die Augen schließen, um die Tränen zurückzuhalten und drückte mich noch enger an Ryan, der nun verwundert innehielt. Allerdings hatte er das Feingefühl nicht weiter nachzuhaken und stattessen uns nur immer fort hin und her zu wiegen.

Der Song schien Ewigkeiten zu laufen.

Mir kam es vor, als hätten sie noch eine Strophe dazu gedichtet, aber das war natürlich lächerlich.

Aber als dann die Abschlusstöne erklangen, stach es schmerzhaft in meinem Herzen. Denn das war immer das Schlimmste. Wenn es endete. Als würden meine Eltern jedes Mal von neuem wieder gehen.

Ryan hielt mit der Musik inne, da ich aber keine Anstalten machte mich von ihm zu lösen, nahm auch er seine Arme nicht von mir.

Stattdessen verharrten wir. Zum Glück standen wir zumindest recht weit am Rand der improvisierten Tanzfläche.

Mir war klar, dass ich mich absolut seltsam benahm und Ryans Hemd loslassen sollte, aber ich schaffte es nicht. Ich brauchte noch ein paar Atemzüge. Einen kurzen Moment, um mich wieder an diese leere Stelle in mir zu gewöhnen. Und Ryan schien das irgendwie zu verstehen, denn ausnahmsweise einmal sagte er nichts.

Und als ich mich schließlich von ihm lösen konnte, wenn auch ich es nicht schaffte ihm in die Augen zu sehen, hakte er nicht nach, als ich ihn bat mich nach Hause zu bringen.

Er holte nur unsere Jacken ab, legte sie mir um die Schultern und geleitete mich zum Auto.


Weihnachtsglück nebenanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt