24.12.16; Heilig Abend

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„Weißt du was ich am Beängstigendsten finde?"

„Was denn?"

„Dass da niemand mehr ist, der hinter einem steht. Eltern haben quasi die Pflicht dich zu lieben. Sie sind ein verlässliches Sicherheitsnetz, ein zu Hause. Selbst wenn man erwachsen ist, fühlt sich jede Last mit ihnen nur noch halb so schwer an."

Wir hatten uns noch immer nicht vom Fleck gerührt, was es irgendwie etwas seltsam machte zu sprechen. Es war so... intim, wie sein Atem an meiner Wange entlang strich.

Vielleicht war ich deswegen auch ganz froh, dass er mir nicht sofort antwortete. Jedes seiner Worte konnte ich nicht nur hören, ich konnte es auch fühlen, wie es in seiner Brust rumpelte. Und zugegebener Maßen gefiel mir diese Nähe etwas zu gut.

Aber das war auch ok so. Für heute war das völlig ok. Denn Nähe war nichts Schlimmes, genauso wenig wie jemanden zu mögen. Und er wusste es. Er wusste es und trotzdem regte sich in mir kein Fluchtinstinkt.

Ein kleines Seufzen kam mir über die Lippen, von dem ich hoffte, dass er es nicht bemerkt hatte. Von mir aus könnten wir den ganzen Abend einfach so sitzen bleiben, ohne zu sprechen, ohne irgendetwas zu tun. Einfach nur zu zweit dasitzen.

Natürlich nutzte Ryan genau diesen Moment, um sich von mir zu lösen.

„Okay, komm mit."

Seine Bewegung kam so plötzlich, dass ich im ersten Moment mit dem Oberkörper nach vorne fiel, bevor ich ihn völlig perplex anstarren konnte. „Was?"

„Es heißt ‚Wie bitte?'" Eigentlich sollte Ryans freche Grinsen völlig unangebracht sein, ich meine, wir hatten uns gerade noch über den Tod meiner Eltern unterhalten, aber bei ihm wirkte es einfach völlig natürlich. Als wäre alles andere abartig und besorgniserregend.

Wahrscheinlich lag es auch daran, dass mein Herzschlag sich bei diesem Anblick beruhigte.

„Hä?"

Provozierend zog ich eine Augenbraue hoch, allerdings schien Ryan seine Erziehungsmaßnahme nicht weiter fortführen zu wollen, und zog mich stattdessen so überraschend vom Sofa runter, dass ich ein lautes Quieken von mir gab. Wenigstens besaß er die Höflichkeit, mich davor zu bewahren auf meinen Allerwertesten zu fallen.

„Ryan, was soll das?"

„Du gehst jetzt duschen."

Und das war dann der Moment, wo mein Hirn einen Moment aussetzte und ich meinen Nachbarn nur wie einen Außerirdischen anstarren konnte.

„Weißt du, es gibt auch deutlich nettere Arten jemanden mitzuteilen, dass er stinkt und definitiv passendere Augenblicke!"

Natürlich besaß dieser Rotzlöffel auch noch die Frechheit bei meinem kleinen Ausbruch nur noch breiter zu grinsen.

„Das würde ich niemals wagen zu sagen und mir würde dieses Aroma von Chips und Schokolade und diese undefinierbare Eigennote auch nie im Leben etwas ausmachen, aber ich denke für meine Eltern solltest du dich schon etwas schicker machen."

„WAS?!" Vor Schock drohten mir meine Augen aus dem Kopf zu fallen.

„ ‚Wie bitte', okay?" Noch so ein theatralisches Augenrollen und ich würde ihm das hübsche Gesicht zerkratzen!

„Nein, vergiss es, ich komme nicht mit zu deinen Eltern! Das wäre ja absolut unangebracht! Du lässt mich jetzt sofort los und gehst alleine los!"

Da mir irgendwie klar gewesen war, dass meine Worte allein nicht wirklich zu Ryan durchdringen würden, gab ich mein Bestes, um sie mit so viel Gestrampel und Gezerre wie nur möglich zu verdeutlichen. Aber dieser Idiot hatte einen Kopf, mit dem man durch Betonwände kam und dazu leider auch noch einen ziemlich festen Griff. Also war es wie schon viel zu oft in unserer kurzen Freundschaft mal wieder vergeblich mich zu wehren.

Am Ende hatte er sich doch wieder durchgesetzt und ich stand in der Dusche... noch immer voll bekleidet.

„RYAN!"

„Okay Maggie, ich werde jetzt in deinem Schlafzimmer auf ich warten und mir vielleicht mal deine Kommode genauer anschauen, also beeil dich lieber!"

Die Tür war nicht gerade hinter ihm zugefallen, oder? Er hatte das nicht wirklich gewagt!

Aus purem Trotz zog ich mir mein völlig durchnässtes Shirt über den Kopf und warf es mit einem lauten Aufschrei gegen die Tür. Dafür würde ich ihn umringen!

Da ich nun jedoch eh schon nass war, wusch ich mich tatsächlich gescheit, natürlich aber nur weil mir danach war und nicht wegen diesem Idioten. Ich konnte doch nicht einfach bei seinen Eltern mit auftauchen und ihr Weihnachtsfest sprengen! Allein bei der Vorstellung wand ich mich vor Scham.

Aus Angst, Ryan könnte wirklich meine Kommode durchsuchen, beeilte ich mich, mich fertig zu machen und kam mal wieder in meinen super eleganten Flauschbademantel gehüllt, in mein Schlafzimmer rein, in dem Ryan sich auf meinem Bett breitgemacht hatte und einfach an die Decke starrte.

Der Anblick ließ mich stocken, bevor ich mit meiner Schimpftriade beginnen konnte. Ich konnte sein Gesicht zwar nur einen kurzen Momentlang sehen, bevor er mich bemerkte und sein übliches Grinsen aufsetzte, aber das reichte, um seinen Gesichtsausdruck zu registrieren. Die steile Falte, die seine Stirn teilte, die zusammengepressten Lippen und die bedenklich zusammengekniffenen Augen.

Und mit einem Mal fühlte es sich schlecht an, ihn anbrüllen zu wollen. Er gab sich solche Mühe, normal weiter zu machen, mich abzulenken, dabei hatte ihn die Nachricht wohl tief getroffen.

Völlig im Unklaren über meine Gedankengänge, schwang sich Ryan voller Elan von meinem Bett und kam auf mich zu geschlendert.

„Ich habe mit meinen Eltern telefoniert und sie freuen sich darauf, noch einen Gast begrüßen zu dürfen."

Gut, jetzt fühlte ich mich doch nicht mehr so schlecht, ihn anzubrüllen.

„Ich hoffe das war gerade ein Scherz! Ich dränge mich gewiss nicht deiner Familie auf!"

Völlig aufgebracht schmiss ich meine Arme in die Luft und wollte mich schon umdrehen, um mich im Bad einzuschießen, bis dieser Sturkopf aufgab und ging, als er mich an der Taille zu packen bekam und mich mit einem intensiven Blick zum Erstarren brachte.

„Du siehst das falsch, Maggie. Du drängst dich nicht auf, sondern du wurdest eingeladen. Und eine Einladung auszuschlagen wäre wirklich sehr unhöflich."

Keine Ahnung, wie wir es geschafft hatten gleich zweimal in einer halben Stunde uns so nahe zu kommen, dass ich seinen Atem über meine Wange streifen spürte, aber ich war in jedem Fall froh, inzwischen Zähne geputzt zu haben.

Ich musste hart schlucken bevor ich ihm antworten und gleichzeitig den Blickkontakt aufrechterhalten konnte.

„Si- sicher?"

Sein Nicken wirkte auf mich wie ein feierliches Versprechen eines Fürsten.

„Absolut."

Mein Nicken fiel im Gegensatz klein aus, unsicher, scheu. Als wäre ich die kleine Gazelle, die sich zum ersten Mal auf ihre Beine hochkämpfte.

Weihnachtsglück nebenanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt