26.12.16; 2. Weihnachtsfeiertag

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Ich hatte gewartet. Den ganzen restlichen Tag, die ganze Nacht, aber Ryan war nicht vorbeigekommen. Ich hatte noch nicht einmal gehört, wie er in seine Wohnung gegangen war, was entweder bedeutete, dass er so leise wie möglich hineingeschlichen war, nur um nicht zu riskieren, dass ich rüber kam oder aber er war in seinem Auto geblieben und hatte das Weite gesucht.
Egal wie, ich fühlte mich elendig.
Wieso nur hatte ich alles auf eine Karte gesetzt und ihn geküsst?
Er musste sich doch völlig überrumpelt fühlen!
Andererseits könnte man mir das auch einfach mitteilen und mich nicht völlig im Unklaren lassen.
Oder sah er sein Nichterscheinen als klare Abfuhr?
Waren wir dann trotzdem noch befreundet?
Mein Schädel drohte zu zerbersten.
Aus Angst er könnte doch noch kommen und ich ihn verpassen, hatte ich seitdem ich zu Hause war kein Auge zubekommen, was verheerende Auswirkungen auf meine Psyche hatte. Vor einigen Stunden hatte ich sogar angefangen aufzuräumen!
Meine Wäsche war gewaschen, der Boden gewischt, mein Bett frisch bezogen. So langsam gingen mir die Tätigkeiten aus und trotzdem fühlte ich mich nicht dazu in der Lage, mich einfach hinzusetzen oder noch viel besser hinzulegen und zu schlafen.
Es war wie eine kaputte Schallplatte in meinem Kopf, die zu überdeutlich hörbar wurde, sobald ich mich nicht mehr beschäftigte. Allein, allein, allein....
War es angebracht nach Weihnachten nochmal Plätzchen zu backen?
Seufzend lehnte ich mich gegen die Wand meines Schlafzimmers und wäre am liebsten arbeiten gegangen, selbst wenn das nur hieß Kaffee zu holen. Alles wäre mir lieber, als dieses leere Gefühl in meiner Brust.
So deutlich hatte ich dieses Loch erst einmal gespürt und das war nach dem Tod meiner Eltern.
Ein erneutes Seufzen entwich mir. War es nicht übertrieben die Abwesenheit meines Nachbarn, den ich erst knapp über einen Monat kannte mit dem Tod meiner Eltern gleichzusetzen?
Meine Güte, es wurde dringend Zeit, dass ich Mal wieder soziale Kontakte knüpfte. Es konnte ja wohl nicht sein, dass ich nur von einer Person abhängig war! Auch wenn diese Person, dich charmanteste, witzigste und interessanteste Person war, der ich bisher über den Weg gelaufen war...
Okay, vom aufräumen würde sich diese ganze Angelegenheit auch nicht klären.
Mit gesammelten Mut marschierte ich los, bevor ich es mir anders überlegen konnte und schnappte mir Ryans Ersatzschlüssel, bevor ich meine Wohnung verließ.
Vor seiner Apartmenttür änderte ich meinen Plan dann aber doch nochmals ab und nutzte nicht einfach den Schlüssel. Höchstens im Notfall.
Sonst würde ich ihn mit meinem Auftritt wieder einfach plattwalzen und das ganze Schlamassel nur noch verschlimmern.
Deswegen hob ich stattdessen die Hand und klopft bestimmt gegen die Tür, obwohl mein Herz am liebsten aus meiner Brust ausgebrochen und geflohen wäre.
Aber manchmal musste halt auch eine Frau den ersten Schritt wagen! Oder halt den ersten Kilometer...
Nervös auf meiner Unterlippe kauend, wartete ich darauf, dass es hinter der Tür zu Bewegung kam und tatsächlich waren schnelle Schritte zu hören und trieben damit meinen Adrenalinpegel hoch. Ryan war also zu Hause. Irgendwie war ich davon schon fast enttäuscht. Wäre er nicht da, gäbe es vielleicht noch eine logische Erklärung, weshalb er nicht rüber gekommen war, außer dass er schlicht und ergreifend von mir nichts wollte.
Weshalb auch immer weckte es aber auch zugleich meine Wut. Immerhin hatte er meinen Kuss erwidert. Wenn er also nichts von mir wollte, hätte er das nicht machen sollen! Selbst wenn ich ziemlich fordernd gewesen war, weggeschoben zu werden hätte sogar ich verstanden.
Als die Tür sich schließlich öffnete hatte ich meine Fäuste so fest zusammengeballt, dass der Schlüssel mir in die Handinnenfläche schnitt.
"Sorry Mann, ich hab leider nur einen 50€ Schein. Ich hoffe du kannst wechs..."
So konzentriert in seinem Gledbeutel suchend, als müsste ein kleinerer Schein gleich hervorgesprungen kommen, registrierte Ryan erst verspätet, dass ich kein Lieferbote war. Aber zumindest besaß er den Anstand dann sogleich ein zerknirschtes Gesicht aufzusetzen.
Meine Ohren glühten so sehr kochte mir das Blut bei diesem Anblick.
"Oh... Hey Maggie."
Sein übliches Lächeln fiel dieses Mal angespannt und kurz aus.
"Hallo Nachbar." Es war wirklich nicht leicht normal zu reden.
Anscheinend unsicher was er sagen sollte, nachdem ich nicht mehr von mir gab, verlagerte Ryan das Gewicht und kratzte sich am Hinterkopf.
"Äh, willst du vielleicht rein kommen?"
Da ich schon jetzt befürchte von Mrs. Dunken durch den Türspion beobachtet zu werden, nahm ich das wahrscheinlich eher aus Höflichkeit resultierende Angebot ohne ein Wort an und stampfte an ihm vorbei.
"Maggie..."
Ein leises Klicken verriet, dass er die Tür geschlossen hatte.
"Sei nicht wütend."
Diese plumpe Aussage brachte mich mitten im Raum zum Erstarren. Mit mehreren tiefen Atemzügen drehte ich mich langsam zu ihm um, bemüht die Kontrolle zu behalten.
"Wieso sollte ich? Objektiv betrachtet, hast du mir keinen Grund gegeben wütend zu sein."
Aus Ryans Gesicht war erstaunlich wenig zu lesen. Dabei trug er normalerweise sein Herz doch immer zur Schau.
"Aber soll ich dir mal was sagen?"
Einen Finger anklagend gehoben machte ich einen großen Schritt in seine Richtung.
"SUBJEKTIV STEH ICH KURZ VORM EXPLODIEREN!"
Ich hätte schwören können, dass die Bilderrahmen an der Wand klapperten. Ryan jedenfalls zuckte kurz zusammen, bevor er die Arme verkreuzte, als müsse er sich vor mir schützen.
Das alles steigerte meine Wut nur noch mehr, obwohl ich natürlich gar kein Recht dazu hatte. Immerhin durfte er ja wohl entscheiden ob er etwas von mir wollte oder nicht.
Aber Logik war hier nicht mehr angebracht.
"Sei doch wenigstens Manns genug und sag mir einfach, dass du mich so nicht siehst, dann könnten wir wenigstens normal weitermachen!"
Nur kurz zuckte ein Muskel an Ryans Kinn, aber obwohl ich ihm genug Zeit gab, kam keine Antwort.
Entgeistert starrte ich ihn an und schüttelte langsam den Kopf.
"Denkst du ich mache mich gerne hier zur Witzfigur? Wahrscheinlich hätte ich nach deiner Abfuhr nicht hier rüber kommen sollen. Dann wäre mir zumindest noch mein Stolz geblieben. Aber weißt du was? Mir ist unsere Freundschaft wichtig. Mir ist es wichtig jemanden zu haben mit dem ich dumme Plätzchen backen kann, während dummes Fernseherprogramm läuft und wir dumme Witze reißen! Mir ist das alles so verdammt wichtig weil ich es so lange nicht mehr hatte und niemand von dir abgesehen es geschafft hat mir das wieder zu geben!"
Ohne dass ich es bemerkt hatte, musste ich angefangen haben zu weinen, denn jetzt konnte ich Ryans Gestalt nur noch verschwommen sehen und damit in keinster Weise erkennen, was sein Gesicht in diesem Moment wohl verriet.
Ich verkniff mir mit größter Mühe ein Schluchzen, weil es mir in der aufkommenden Stille zu peinlich war. Das hier war vielleicht doch nicht so eine schlaue Idee gewesen. Und ich konnte noch nicht einmal einfach abhauen, weil Ryan zwischen mir und der Tür stand. Also blieb mir nichts anderes übrig als mitten im Wohnzimmer meines
Nachbarn stehen zu bleiben und meine Arme um mich selbst zu schlingen.
Wieso tat er mir das an und blieb einfach völlig unberührt stehen?
"Und deswegen bin ich gestern nicht zu dir rüber gekommen."
Ryans Stimme klang wie aus weiter Ferne und brachte mich zum Zittern.
"Weil du keine Szene geschoben bekommen wolltest? Tut mir leid, dass ich Gefühle habe!"
Nicht mehr in der Lage es zurückzuhalten, entschlüpfte mir ein lautes Schluchzen.
"Gott nein, Maggie!"
Und als würde er mit einem Schritt eine riesige Distanz zwischen uns überbrücken, konnte ich plötzlich Ryans Körperwärme spüren, obwohl uns locker noch ein halber Meter trennte.
"Sowas darfst du nicht denken."
Nur verschwommen sah ich wie er eine Hand hob, als wolle er mir eine Träne von der Wange streichen und sie dann wieder kraftlos fallen ließ.
"Ich bin nicht gekommen weil ich wusste was für eine große Bedeutung das für dich hätte und ich nicht glaube diese... Erfüllen zu können!"
Ich lauschte seinen Worten so gebannt, dass die Tränen von alleine versiegten.
"Was?"
Ryans Stirn lag in tiefen Falten, als sich meine Sicht klärte.
"Du hast dir so ein positives Bild von mir gemacht, dass ich es egal wie enttäuschen werde! Und das will ich nicht, weil... Weil ich es genieße wie du mich aus großen Augen anschaust und lächelst wenn wir zusammen sind.
Du hast mich aus Dankbarkeit geküsst, aber würdest du das auch dann noch, wenn es nichts mehr gibt, weswegen du dankbar sein könntest? Und wer wäre ich es auszunutzen, dass du momentan noch so verletzlich bist! Es würde keinen Monat dauern und du würdest mich völlig anders wahrnehmen. "
Mit jedem Wort verschlug es mir mehr die Sprache, bis ich nur noch ein leises "Ryan..." herausbrachte.
"Natürlich mag ich dich Maggie. Und zwar mehr als nur auf freundschaftliche Weise, aber wenn ich dir als Freund länger nahe bleiben kann, dann ist mir das lieber, als nur eine kurze Romanze."
Was konnte man dazu noch sagen? Damit hatte ich keinen Falls gerechnet, als ich rüber gekommen war und doch war es zugleich so viel mehr als das was ich mir erhofft hatte.
Aus dem Wunsch heraus ihm einfach zu zeigen, was ich empfand und nur nicht in Worte fassen konnte, stürzte ich mich einfach nach vorne und schlang meine Arme so fest um ihn wie ich nur konnte.
Augenblicklich spürte ich auch seine um mich.
"Ich habe dich nicht nur aus Dankbarkeit geküsst. Ich habe dich geküsst, weil du mich zum Lächeln bringst nur durch deine Anwesenheit. Weil du ein so großes und offenes Herz hast. Weil du Leben verkörperst und mein Herz höher schlagen lässt. Weil du absolut verrückt bist und mich damit verrückt machst, aber auf diese positive Art und Weise, die meinem ganzen Körper Prickeln lässt.
Ich weiß nicht was du von dir denkst für mich hat sich das nach völligem Schwachsinn angehört. Aber wenn hier jemand jemanden ausnutzt dann ich dich! Also bitte, küss mich wenn du das willst."
Und keine Sekunde später fühlte ich seine Lippen auf meinen und diesen herrlichen Schauer, den mir dieses Gefühl bescherte.
Wir waren uns auf eine seltsame intime Art und Weise beide darüber einig, dass keine Worte mehr nötig waren, dass Worte nur alles komplizierter machten, wenn es um das ging, was zwischen uns herrschte.
Deshalb war das einzige was ich zu ihm sagte, als wir völlig außer Atem auf seiner Couch landeten: "Denkst du wir können zu Silvester wieder zu deinen Eltern?"
Und sein Lachen zusammen mit dem sanften Kuss auf meine Stirn war die schönste Antwort, die ich jemals bekam.

~Ende~

Weihnachtsglück nebenanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt