17.

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Es steht in jeder Zeitung und kommt quasi jede Minute im Fernsehen: Groß Britannien hat Deutschland den Krieg erklärt. Als ich es erfahre bin ich grade bei Tim im Wohnzimmer, wir hören es in den Nachrichten.
Am nächsten Tag werden alle Schüler morgens in der Aula versammelt. Wahrscheinlich müsste ich jetzt vor Angst sterben, dass ich bald erschossen werden könnte, aber dass ist mir ja bekanntermaßen nicht allzu wichtig. Als ich in der Aula ankomme ist ein Großteil der Schüler schon dort. Fast alle Lehrer stehen bereits vorn auf der kleinen Tribüne. Allen voran natürlich Herr Rickmann. Es war klar, dass er es sein würde, der vor den Schülern sprechen wird. Er ist der Vertrauenslehrer und kennt sich ja außerdem gut mit dem Thema aus. Als es zur ersten Stunde klingelt, räuspert Tim sich laut und bittet um Ruhe, die er kurz darauf auch bekommt.
"Also Leute.. Ich weiß, viele von euch haben Angst, aber der Großteil von euch muss sich keine Sorgen machen. Viele von euch hatten Bedenken, dass sie oder ihre Eltern jetzt in den Krieg ziehen müssen, wie beim zweiten Weltkrieg. Doch die einzigen Deutschen die in den Krieg ziehen müssen sind ausgebildete Soldaten. Erstmal. Ich möchte nichts verschönigen, es kann natürlich schlimmer werden, dass kann immer sein. Vielleicht ist der Krieg aber auch bald schon wieder vorbei. Was auch kommt, wir werden versuchen unser Leben hier so normal wie möglich weiterzuführen, denn alles andere bringt gar nichts. Deshalb geht jetzt alle in eure Klassen, der Unterricht geht normal weiter. Wenn ihr noch Fragen habt, mit Jemandem reden wollt oder einer eurer Bekannten ein Soldat ist, könnt ihr gern zu mir kommen. Ihr wisst wo ihr mich findet. Danke, dass ihr aufmerksam zugehört habt." Er nickt und tritt einen Schritt zurück, woraufhin die Schüler sich in Bewegung setzen um in ihre Klassenräume zu gehen.
Ich bleibe noch stehen und warte auf Tim, da ich jetzt sowieso Unterricht mit ihm habe. "Soll ich dich heute nach der Schule gleich zu mir mitnehmen ?" fragt er, während er mir einmal auf die Schulter klopft. Ich nicke. "Gut. Na komm, jetzt quäl ich euch erstmal mit ein bisschen Geografie." grinst er und ich muss lächeln.
Auf meinem Platz angekommen werde ich von Tommy begrüßt. "Was hältst du von der ganzen Kriegssache ?" fragt er nach einer Weile, flüsternd, damit Tim nicht hört, dass wir im Unterricht reden. Ich zucke mit den Schultern. "Ehrlich gesagt, es ist mir relativ egal." antworte ich trocken und Tommy sieht mich fassungslos an. Doch in diesem Moment wirft uns Tim einen ermahnenden Blick zu und ich höre auf mit Tommy zu reden.

-

Wochen später wache ich viel zu früh durch das Klingeln unseres Telefons auf. Da ich jetzt eh nicht mehr schlafen kann, ziehe ich mich schnell an und gehe runter damit ich vielleicht noch mit meiner Mom frühstücken kann, bevor sie zur Arbeit fährt. Als ich in der Küche ankomme, hat sie grade aufgelegt und sieht mich mit großen Augen an. "John.. Tim- Tim hat gerade angerufen.. Er- äh.. Da- da waren Soldaten und sie- sie nehmen ihn mit, hat er gesagt. Ich-" Sofort ziehe ich mir meine Schuhe an und renne los. Sie können Tim doch nicht einfach mitnehmen ..

Schon nach den ersten Kilometern bin ich außer Atem, meine Lunge brennt, mein ganzer Körper tut weh. Ich habe das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, doch ich renne weiter. Ich renne weiter, bis ich schließlich in seine Straße einbiege. Von weitem sehe ich den Truck, vor seinem Haus zwei Soldaten in Uniform und zwischen ihnen Tim. Ich versuche nochmal schneller zu werden, stolpere, falle hin, stehe wieder auf, stolpere nochmal, falle wieder fast, fange mich, renne weiter. Mein Körper verkrampft sich. Tim geht in Richtung Transporter. Darin sind bereits viele andere Männer. Einige von ihnen habe ich schon mal gesehen, manche kenne sogar, andere gar nicht. Gerade sind alle egal. Ich will schreien, ihn auf mich aufmerksam machen, davon abhalten einzusteigen, doch ich schaffe es nicht. Bekomme nur ein leises Krächzen raus. Er sieht mich nicht, steigt in den Wagen. Ich versuche nochmal ihn zu rufen, doch der Motor des Transporters übertönt es. Ich rufe seinen Namen, wieder und wieder. Dann dreht er sich endlich zu mir um, sieht mich, springt wieder aus dem Wagen, rennt ebenfalls auf mich zu. Als wir nur noch einen Meter voneinander entfernt sind, falle ich mit zitternden Knien in seine Arme, kann mich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich sinke auf den Boden, ziehe ihn mit nach unten, auf die Knie. "Was machst du hier ?" fragt er leise. "N-nicht du .." krächze ich heiser. "Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid." "Aber sie können dich mir doch nicht wegnehmen. Ich brauche dich doch. Du bist der Einzige mit dem ich reden kann. Wie soll ich denn ohne dich klar kommen ?" Ich werde von Soldaten unterbrochen, die Tim bitten jetzt einzusteigen. Er nimmt mich in den Arm. "John. Versprich mir, dass du dir nichts antust." Die Männer nehmen ihn und geleiten ihn zum Truck. "Versprich es mir !" Ich antworte nicht. "Versprich es, John. Für Louis. Für mich.." Er sieht mir in die Augen, wartend, hoffend, bittend. Ich nicke. Er lächelt, erleichtert. Dann schließen sie die Autotür.

*flashback* ».. bevor er ins Auto steigt und weg fährt. Ich schaue ihm hinterher, bis ich sein Auto nicht mehr sehen kann und noch lange danach starre an den Punkt, an dem ich ihn das letzte Mal gesehen habe.« [7.]

Und ich wünschte, die Leere würde zurückkommen. Die Leere, die sich vor einem dreiviertel Jahr in meinem Körper festgesetzt hat. Ich hab mir die ganze Zeit über gewünscht, dass sie weggeht. Das dieses Gefühl der Leere verschwindet. Es ist verschwunden. Mit Tim's Fortgehen ist auch dieses Gefühl gegangen. Hat Platz für ein anderes, mir ebenfalls sehr bekanntes Gefühl geschaffen, dass nun meinen Körper beherrscht. Schmerz. Kalter dumpfer, gleichzeitig stechender Schmerz, der sich langsam in meinen Körper frisst, bis er schließlich ganz tief in ihm drin sitzt.
Ich krümme mich zusammen. Die Schmerzen werden trotzdem immer stärker, hören nicht auf. Das ich noch neben der Straße liege, ist mir egal.
Von weitem höre ich Schritte auf mich zukommen, doch ich beachte es nicht. "Johnny ?" Die Stimme kenne ich. Tommy beschleunigt seinen Gang. "John, was machst du hier ? Was ist passiert ?" Er kniet sich auf den Boden, greift mir unter die Arme und zieht mich in ein Stück nach oben. "John ? Hey.." Ich zittere immer noch, aber seine Umarmung nimmt den Schmerz in meinem Körper ein bisschen. "Sie haben Tim geholt. Und andere Männer aus der Gegend. Soldaten." flüstere ich heiser.

Bernsteinbraun [BoyxBoy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt