18.

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Das ganze Wochenende lang habe ich nichts getan. Seit drei Tagen ist Tim jetzt weg und es kommt mir vor wie Wochen. Doch wie er gesagt hat: Wir müssen weiter machen, als wenn nichts wäre .. Deshalb mache ich mich auch grade auf den Weg zur Schule. Wieder sollen sich vor dem Unterricht alle in der Aula treffen. Der erste Schultag ohne Herr Rickmann. Ob er wohl noch am Leben ist ? Die Frage habe ich mir in den letzten zwei Tagen so oft gestellt. Ich will nicht daran denken, aber sie taucht immer wieder in meinem Kopf auf. Meine Gedanken werden vom Klingelzeichen unterbrochen und ein Lehrer, mit dem ich keinen Unterricht habe, tritt vor. Die Schüler werden leise. "Danke. Einige von euch haben sicher bemerkt, dass die Lage sich etwas.. naja.. zugespitzt hat. Ihr solltet heute wieder alle in die Aula kommen, damit wir die Sache klären: Keiner von uns muss sich Sorgen machen, alles wird wieder gut." Er macht eine kurze Pause und Tommy und ich sehen uns entsetzt an. Lügt er grade alle Schüler an, nur damit sich keiner Sorgen macht ? Die ersten Schüler beginnen schon wieder die Aula zu verlassen, als er erneut die Stimme erhebt. "Einige von euch fragen sich sicher auch, warum Herr Rickmann heute nicht hier ist. Dazu können wir nur folgendes sagen.. Er hat überraschend gekündigt. Wir möchten jetzt nicht weiter darauf eingehen. Und nun geht in eure Klassen."
Wut sammelt sich in meinem Körper. Ich boxe gegen die nächste Wand die ich finden kann, bevor ich mich durch die anderen Schüler nach vorne zwänge. Ohne zu überlegen, springe ich auf die kleine Tribüne am Ende der Aula. Bevor ich überhaupt weiß, was ich sagen soll, stelle ich mich nach vorn. "Wartet !" Etwa 300 Augenpaare drehen sich zu mir um und sehen mich an. Was mache ich jetzt ? Ich atme einmal tief durch. Jetzt ist es sowieso zu spät. "Ti- Herr Rickmann hat nicht gekündigt. Er ist auch nicht freiwillig von der Schule gegangen.. Er wurde mitgenommen, von Soldaten. Er ist im Krieg, zusammen mit vielen anderen jungen Männern hier aus der Gegend." Ich wende mich zu dem Lehrer der gesprochen hat. "Und das wissen sie auch." Ein anderer Lehrer kommt auf mich zu. "Und woher weißt du es ?" Ich muss bitter auflachen. Er denkt jetzt wahrscheinlich ich bin ins Sekretariat eingebrochen und hab Akten durchsucht oder so. "Weil ich dabei war, als sie ihn geholt haben." sage ich heiser, aber noch laut genug, damit sie es verstehen können. Ich drehe mich wieder zu den Schülern um. "Wenn ihr ehrlich seit, wusstet ihr das auch. Mit Sicherheit sind auch von einigen hier bereits Verwandte geholt worden.
Und ihr wollt mir erzählen, dass ihr geglaubt habt, dass Herr Rickmann gekündigt hat ? Er hat seinen Beruf geliebt und er hat unglaublich gern unterrichtet. Es ist kein Geheimnis, dass er der beliebteste Lehrer der Schule war. Jeder von euch, der ihn kannte - hättet ihr euch nicht denken können, dass das nicht stimmt ?"
Aus dem Saal kommt nur zustimmendes Gemurmel, bis der Direktor das Wort ergreift. "Schluss jetzt! Geht in eure Klassenräume. Nun macht schon."

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In den nächsten Wochen werden immer mehr Männer geholt, Nachbarn und Bekannte von uns. Ich bin seit ein paar Wochen 18, Tommy ist sogar schon 19. Es ist keine Frage mehr ob wir geholt werden, sondern nur wann. Deshalb treffen wir uns jeden Tag um uns gegenseitig zu vergewissern, das wir noch da sind. An einem Samstag Vormittag klingelt es an unserer Haustür. Ich öffne, denke es ist Tommy, doch blicke in die ernsten Gesichter von zwei uniformierten Soldaten. "Mom ? Dad ? Kommt ihr mal bitte kurz." rufe ich ruhig. Papa kann nicht geholt werden, er ist der Chef einer für Deutschland wichtigen Firma, was ihn unentbehrlich macht. Also ist es klar. Meine Mama kommt aus der Küche. "Wer ist es denn ?" Ich öffne die Tür ein Stück weiter, gebe die Sicht auf die beiden Soldaten frei. Mama bleibt sofort erstarrt stehen und sieht mich mit geschocktem Blick an, bevor sie langsam den Kopf schüttelt. Auch mein Papa ist mittlerweile im Flur angekommen und Mama vergräbt ihr Gesicht in seinem T - Shirt. Ich höre sie schluchzen und auch Papa hat Tränen in den Augen. "Können sie noch eine Sekunde warten ?" frage ich die Soldaten freundlich. Sie nicken und ich gehe in mein Zimmer, nehme schnell das eine Bild von meinem Nachttisch aus dem Rahmen und stecke es ein. Dann gehe ich die Treppe wieder runter und bleibe vor meinen Eltern stehen. "Mama ?" Sie löst sich von Papa und nimmt mich in den Arm. "Es ist schon okay.. Denk dran, dass du Papa behalten kannst. Es könnte schlimmer sein." Ich drücke sie an mich, bevor sie sich von mir löst und ich zu Dad gehe. Auch ihn schließe ich in eine Umarmung. "Ich hab dich lieb Papa, pass auf Mama auf, ja ?" Er nickt. Mama kommt nochmal auf mich zu und umarmt mich wieder. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. "Dich hab ich auch lieb." sage ich lächelnd und sie löst sich von mir. Dann gehe ich aus der Tür, auf den Wagen zu. Das ich geholt werde ist mir relativ egal, doch als ich in den Wagen steige, stockt mir der Atem. Nein ..

Bernsteinbraun [BoyxBoy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt