Zuhause

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"Ich verstehe nur nicht, warum es so spät abends sein muss!", beschwert sich Chloe immer noch, als sie bereits seit einer viertel Stunde neben mir im Auto sitzt und ärgerlich aus dem Fenster starrt.
Es hat mich wahre Überredungskünste gekostet sie vom Sofa hochzubekommen und dazu zubringen, dass sie sich wenigstens etwas halbwegs schickes anzieht und zu mir in den Wagen steigt.
"Ich weiß doch auch nicht worum es geht. Katy hat mich angerufen und darum gebeten so schnell wie möglich zu ihr zu kommen und dich mitzubringen. Ich denke, es wird wichtig sein, wenn sie das so spät noch verlangt. Und für eine gute Freundin machen wir das doch gerne, nicht wahr?", rede ich Chloe ins Gewissen und muss mir dabei das Grinsen verkneifen. Denn wenn sie wüsste, warum wir wirklich zu Katy fahren, dann wäre sie jetzt nicht so schlecht drauf.
"Na gut", seufzt meine beste Freundin gottergeben und streckt sich auf dem Beifahrersitz aus, während ich in die 1 Kilometer lange Einfahrt zu Katy's Anwesen einbiege. Es ist das einzige Haus auf dem gesamten Grundstück und thront dort inmitten von perfekt gestutzten Bäumen und riesigen Rasenflächen. Der Pool schimmert in der Dunkelheit und auch das Haus ist noch hell erleuchtet.
Als wir näher kommen kann ich mein Lächeln nicht mehr unterdrücken, denn der Garten um die großzügige Terrasse ist mit Girlanden geschmückt, in der, mit gemauerten Steinen eingefassten, Feuerstelle brennt ein Lagerfeuer und auf dem großen Holztisch liegen zwischen etlichen Kerzen unzählige Rosenblätter verstreut.
Davor stehen Katy und ihr Bruder Jared, die beide ein herzliches Lächeln im Gesicht tragen. Sogar ihre Eltern, denen das Anwesen gehört, scheinen sie für diese Nacht ausquartiert zu haben, denn ich kann ihren Wagen weder in der Garage noch auf dem Parkplatz davor entdecken. Somit haben wir den gesamten Abend Ruhe vor ihnen und das ist viel Wert.
Ich werfe einen Blick hinüber zu Chloe, die erstaunt nach draußen sieht und mit großen Augen den Garten und das Haus betrachtet.
"Aber ich dachte Katys Geburtstag war Gestern?", wendet sie sich perplex an mich, doch ich zucke nur mit den Schultern und halte das Auto an.
"War er ja auch."
Chloe sieht mich weiterhin verwirrt an, aber ich lache nur amüsiert und steige aus. Sofort kommt Katy auf mich zu und zieht mich in eine herzliche Umarmung.
Ich kenne sie mindestens genauso lange wie Chloe und kann mich noch genau daran erinnern, wie ich damals alleine in die achte Klasse kam und niemanden kannte, da meine Familie und ich neu in diese Stadt gezogen waren. Katy saß neben Chloe und beide haben mich sofort bei sich aufgenommen und von dem Zeitpunkt waren wir drei unzertrennlich. Nun ja, bis Katy nach dem Abschluss in eine andere Stadt zum studieren zog und der Kontakt sich nur noch auf das nötigste beschränkte, was vielleicht auch daran lag, dass Chloe und ich genug mit unserem eigenen Studium zu tun hatten. Letztendlich wurden auch wir getrennt, da ich an einer anderen Schule unterrichtete als sie, aber dafür kam Katy zurück und begann hier zu arbeiten, sodass sie und Chloe sich wieder täglich sahen. Und als dann auch noch ich an Chloes Schule wechselte, waren wir wieder vereint. Doch heute ist unsere erste Begegnung, das erste Mal seit Jahren dass wir nicht telefonieren, sondern uns endlich wiedersehen.
"Hallo Baby", begrüße ich Katy und gebe ihr einen Kuss auf die Wange, was sie zum Lachen bringt.
"Den Kosenamen werde ich wohl auch mit 28 nicht mehr los", lächelt sie und ich schüttle grinsend den Kopf.
"Den wirst du nie mehr los."
Wir lösen uns voneinander und gehen hinüber zu Jared und Chloe, die von Katy ebenfalls in eine innige Umarmung gezogen wird.
"Hallo Liz, schön dich endlich wieder zu sehen", lächelt Jared und klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. Umarmungen waren noch nie sein Ding. Aber das ist okay.
"Hi Jay, wie geht's der Familie?", erwidere ich und wie aufs Stichwort erscheint eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm auf der Terrasse des Anwesens.
"Bestens. Ian macht sich wirklich hervorragend und Bella versteht sich blendend mit den anderen Müttern in der Krabbelgruppe."
Jared lächelt stolz und geht seiner Frau und seinem Sohn entgegen, als sie auf uns zukommen. Ian hat genau wie er grüne Augen und dunkelblonde Haare, die Nase und den Mund hat er allerdings von seiner Mutter.
"Hallo Liz, schön dich endlich kennen zu lernen", begrüßt mich Bella und gibt mir die Hand, während Ian mich mit großen Augen mustert und sich fest an den Hals seiner Mutter klammert.
"Freut mich auch sehr", erwidere ich und wir lächeln uns an, wobei ich nicht umhin komme festzustellen, dass Bella ihrem Namen mehr als gerecht wird. Die dunkelbraunen langen Haare, die dunklen ausdrucksstarken Augen und der etwas südliche Teint, lassen sie unheimlich attraktiv wirken, doch ich verspüre nicht die geringste körperliche Regung in mir. Ganz anders als bei einer gewissen Frau mit strahlend blauen Augen.
"Hallo kleiner Mann", wende ich mich jetzt auch an Ian und streiche ihm vorsichtig über die kleine Wange, was Bella, Jared und mir ein Lächeln entlockt. Denn Ian greift nach meiner Hand und versucht sie festzuhalten.
"Herzlichen Glückwunsch nachträglich übrigens", sage ich und die beiden nicken dankbar mit dem Kopf,"zu eurem ersten Sohn."
"Danke. Aber apropos Sohn, ich glaube ich muss zurück zu Phil. Er steht in der Küche und ist aufgeregter als ein kleines Kind", verabschiedet sich Jared und läuft schnell zurück in das hell erleuchtete Erdgeschoss, während Bella und ich langsam hinüber zu Chloe gehen, die von Katy die ganze Zeit abgelenkt wurde und jetzt passender weise auf dem umgekippten Baumstamm vor dem Lagerfeuer sitzt und von ihrer Freundin weiterhin zugequatscht wird.
"Genau dort saß Chloe damals auch, als Phil sich einfach zu ihr setzte und sie in ein Gespräch verwickelte. Und genau da will er sie fragen", flüstere ich Bella zu und sie nickt mit wissendem Lächeln.
"Dann soll er sich mal beeilen, sonst steht sie noch auf."
Und tatsächlich dauert es nicht mehr lange, bis sich plötzlich die Tür öffnet und Phil hinaus in den Garten tritt. Hinter ihm läuft Jared und hält sein Handy in der Hand, mit der er das Geschehen filmt. Da Chloe mit dem Rücken zum Haus sitzt, sieht sie nicht, wie Phil langsam auf sie zukommt, wie er mir nochmal einen kurzen Blick zuwirft, den ich zwinkernd erwidere und sich dann neben sie auf den Baumstamm setzt.
Katy zückt ebenfalls eine Kamera und beginnt langsam zurückzugehen um auch ja ein schönes Bild hinzubekommen, während Bella, Jared und ich mit einem breiten Grinsen, jedoch gespannt die Luft anhalten.
"Hallo schöne Frau."
Erst jetzt bemerkt Chloe Phil, da sie vorher nur verwundert auf Katy gestarrt hatte, doch als sie sich zu ihm umdreht und das nervöse aber dennoch strahlende Lächeln in seinem Gesicht sieht, scheint etwas in ihr 'Klick' zu machen.
"Oh mein Gott", entfährt es ihr, als Phil vor ihr auf die Knie geht und die aufgeklappte Schatulle mit dem funkelnden Ring in der Hand hält.
"Willst du mich heiraten?"
Es ist nur Chloes glückliches Schluchzen zu hören, doch dann antwortet sie laut und deutlich.
"Ja, ich will."
Ich pfeife durch die Finger, während Chloe in Phils Arme fällt und sie sich liebevoll küssen. Bella und Katy klatschen begeistert, sogar der kleine Ian patscht ein paar mal seine Hände zusammen.
Leise Musik kommt aus der aufgestellten Anlage und unterstreicht diesen unglaublich schönen Moment, als Phil der weinendenden Chloe den Verlobungsring an den Finger steckt und sie sich nochmals küssen. Danach umarmt Chloe ihren frisch Verlobten und kann über seine Schulter in meine Richtung sehen. Ein glückliches Strahlen liegt auf ihrem Gesicht und ich strahle zurück. Ich freue mich so sehr für meine beste Freundin.
______________
Es ist mittlerweile schon Nacht geworden, doch Chloe, Phil, Katy, Jared, Bella und Ian sitzen noch am Lagerfeuer und reden angeregt miteinander, auch wenn der kleine Ian bereits in Katys Armen eingeschlafen ist.
Ich selbst habe mich mit der Entschuldigung einen Anruf beantworten zu müssen von der Gruppe entfernt und laufe nun über den dunklen Rasen hinüber zu dem kleinen See, der von der Terrasse nicht einzusehen ist. Dort angekommen setze ich mich auf den kleinen Felsvorsprung und sehe auf die spiegelnde Wasseroberfläche hinab.
Ich muss erst einmal alle Gedanken in meinem Kopf in Ruhe durchgehen, bevor ich wieder zu meinen Freunden zurückgehen kann. Ich muss für eine Weile alleine sein und der dunkle See scheint der perfekte Ort dafür zu sein.
Ganz ohne Zweifel freue ich mich riesig über die Verlobung meiner besten Freundin, die meiner Meinung nach schon längst überfällig war. Doch irgendwas an ihr lässt mein Herz schwer werden und eine Wehmut steigt in mir auf, die ich mir nicht erklären kann. Und so sitze ich einfach stumm auf den Steinen und starre auf die geheimnisvoll schimmernde Wasseroberfläche.
"Möchtest du lieber alleine sein?"
Ich fahre erschrocken herum und mein Herz beginnt wie verrückt zu klopfen, als die Gestalt aus dem Schatten tritt und das Mondlicht auf ihr Gesicht fällt, dabei hatte ich sie schon längst an dieser unglaublichen Stimme erkannt.
"Nein, setz dich zu mir."
Ich klopfe auf die Steine neben mir und tatsächlich sitzt Ashlee wenige Sekunden später mit einem kleinen Abstand neben mir und sieht genau wie ich auf den See hinaus.
"Warum bist du mir gefolgt?", frage ich schließlich, obwohl ich immer noch den Gedanken in meinem Kopf nachhänge.
"Ich habe gemerkt, dass es Phil war der dich besucht hat, nicht Chloe und als ich mitbekommen habe was ihr vorhabt, war ich einfach neugierig. Ich hoffe, du hast nichts dagegen."
Ihre Stimme ist ruhig und beherrscht. Auch ihr Körper strahlt eine gewisse Ruhe und innere Gelassenheit aus, die ich sonst noch nie in ihrer Gegenwart gespürt habe. Doch in den drei Monaten scheine nicht nur ich mich, sondern auch Ashlee sich verändert zu haben.
"Ich mache dir keinen Vorwurf", sage ich ebenso leise und ruhig, obwohl mein Herz schnell klopft und ich genauso aufgeregt bin, wie bei unseren ersten Begegnungen.
Eine kurze Zeit ist es still zwischen uns, dann ergreift Ashlee erneut das Wort.
"Ist es das, was du dir wünscht?"
Ich sehe sie an und ihre blauen Augen mustern mich mit einem ehrlichen Interesse.
"Was meinst du?"
"Heiraten? Kinder bekommen? Eine Familie haben?"
Ich schlucke einmal, löse den Blick aber nicht.
"Ich will einfach nur glücklich sein. Vielleicht heirate ich, vielleicht gründe ich eine Familie. Ich weiß es nicht. Das wird sich mit der Zeit zeigen."
Ashlee nickt und sieht wieder nach vorne. Auch ich wende mich ab und versuche aus ihr schlau zu werden, aber die Frau neben mir scheint gelernt zu haben, ihre Gefühle perfekt zu verbergen.
"Hättest du einen Antrag von Collin angenommen, als ihr noch zusammen wart?", fragt sie erneut, doch diesmal ist Ashlee's Stimme sanfter und der Blick ihrer Augen weicher.
"Damals...damals hätte ich es getan. Aber wäre ich heute noch mit ihm zusammen, ich würde es nicht tun", antworte ich ihr und meine Stimme zittert bei den letzten Worten.
"Warum nicht?", flüstert Ashlee und lehnt sich leicht zu mir herüber.
Ich sehe ihr tief in die Augen, ich habe das Gefühl ich könnte ihr in diesem Moment in die Seele schauen und ich spüre alle Gefühle für sie aus mir herausbrechen, sie durchfluten meinen Körper, lassen ihn erzittern und mein Herz wie verrückt klopfen.
"Weil ich dich kennengelernt habe. Mit Collin strample ich an der Oberfläche und versuche zu atmen, doch mit dir fliege ich hoch in die Luft und fühle mich frei und glücklich. Ohne dich ertrinke ich. Und das wusste ich, seit ich das erste Mal in deine Augen gesehen habe."
Ich lehne mich ebenfalls nach vorne, komme Ashlee ganz nah, ich kann ihren Atem auf meiner Haut spüren, ihr Blick brennt sich in meine Netzhaut. Es ist eine Mischung aus Schmerz, Verlangen und Liebe.
"Ich liebe dich."
Ihre Worte jagen mir eine Gänsehaut über den Körper und gleichzeitig bewegen sich meine Hände wie von selbst in ihren Nacken, greifen in ihre Haare, ziehen ihre Lippen an mich. Meine Augen fallen zu und mein Herz hämmert in meiner Brust, als Ashlee nur noch Zentimeter von mir entfernt ist, ihr süßer Atem auf meine Lippen trifft und sich ihre Hände um meine Hüfte legen, mich dort festhalten.
"Ich will mit dir zusammen sein", haucht sie und unsere Körper erzittern unter der Macht ihrer Wörter.
"Ich liebe dich, Ashlee", hauche ich zurück und dann geschieht es.
Ashlees Lippen berühren meine und sie küsst mich, wie sie mich noch nie geküsst hat. Sie küsst mich, als gäbe es kein Morgen mehr. All ihre Sehnsucht, ihr Schmerz und ihre Leidenschaft liegen in diesem Kuss und ich lasse mich fallen.
Ich denke an nichts anderes mehr, als an die wunderschöne Frau in meinen Armen, an die unendliche Liebe, die mich durchströmt und die mir von ihr entgegenschlägt. An das Gefühl ihrer Lippen auf meinen, ihrer Haut an meiner und das pure Glück, das mich erfüllt und nur einen Gedanken zulässt.
Zuhause. Endlich.

With you everything changedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt