Ball

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Das Telefon klingelt nun schon zum dritten Mal, aber ich lasse es klingeln. Genau wie die zwei Male davor. Chloe weiß genau, dass ich mit niemandem reden will wenn ich einem Tief stecke. In den vergangenen 3 Monaten hat das wohl fast jeder in meinem näheren Umfeld mitbekommen. Und fast jeder hält sich daran. Nur Chloe nicht. Es wundert mich nicht wirklich. Meine beste Freundin hat sich noch nie an irgendwas gehalten.
Als auch noch mein Handy neben mir anfängt zu vibrieren und somit die ganzen unbeantworteten Nachrichten anzeigt, bin ich kurz davor es gegen die Wand zu werfen, doch ich finde nicht die Kraft dazu den Arm zu heben. Stattdessen sinke ich noch tiefer in mein Sofa und kuschle mich enger in meine Decke, während ich lustlos durch die verschiedenen Kanäle schalte. Sender nach Sender flimmert über den Bildschirm bis mein Finger plötzlich wie erstarrt über der Fernbedienung schwebt. Ich starre mit weit aufgerissenen Augen auf die zwei Männer, welche händchenhaltend durch den Park schlendern und sich dabei verliebt ansehen. Kurz darauf bleiben sie zueinander gewandt stehen und obwohl ich genau weiß was jetzt kommt und mein Herz mich anfleht weiter zu schalten, rührt sich kein Muskeln in mir. Die Lippen der beiden nähern sich einander und treffen sich schließlich zu einem sanftem Kuss.
Und da ist es wieder. Der brennende Schmerz in der linken Seite meiner Brust, der mich förmlich zerreißt und die Tränen über meine Wangen stürzen lässt. Der Kloß in meinem Hals wird immer größer und macht das Schlucken unmöglich. Und wie so oft in diesem Moment vergrabe ich mein Gesicht in den Kissen und schreie solange bis meine Stimme heiser und der Schmerz in meinem Herz zu einer dumpfen Leere geworden ist.
Und zum tausendsten Mal verwünsche ich dieses Mädchen, welches mir das alles angetan hat. Ihretwegen kann ich mir nicht einmal mehr küssende Menschen ansehen ohne innerlich komplett zu zerbrechen, wenn das überhaupt noch möglich ist. Denn in mir fühlt sich alles so vernarbt und hohl an, dass da wohl nicht mehr viel ist, was zerbrechen könnte.
Natürlich gibt es auch gute Tage, in denen ich nicht teilnahmslos neben meinen Kollegen sitze und vor mich auf die Tischplatte starre. Und in denen ich nicht monoton meinen Unterrichtsstoff herunter rattere und meine Schüler damit zu Tode langweile. Aber diese Tage sind in den letzten 3 Monaten wenig geworden. Um genau zu sein ab dem Tag, an dem mir nicht mehr als ein Stück Papier von ihr blieb.
Ich kann mich kaum noch an die Tage danach erinnern. Das einzige was seitdem präsent ist, ist das Brennen, welches nie ganz verschwindet und nur ab und zu von einer noch schmerzhafteren Leere ersetzt wird. Eben dann wenn ich gerade wieder emotional zusammengebrochen bin.
Anfangs war Chloe bei diesen Zusammenbrüchen noch äußerst besorgt und auch meine Eltern riefen mehrmals täglich an oder besuchten mich, doch mittlerweile bringt Chloe dafür nur noch wenig Verständnis auf. Sie akzeptiert zwar, dass ich nach wie vor abwesend und in mich gekehrt bin aber sie ist der Meinung, dass ich nach vorne schauen sollte und alles vergessen, was mich wieder und wieder in ein dunkles Loch zieht. Sie vergessen.
Und wie oft habe ich das versucht. Wie oft bin ich abends mit meinen Freundinnen weg gegangen und wie oft habe ich dort nette Männer kennengelernt. Es gab sogar ein oder zwei Dates, die letztendlich doch mit einem Weinkrampf nachts alleine im Bett endeten. Ich schaffe es einfach nicht mich auf jemand neuen einzulassen und ich habe die Hoffnung schon fast aufgegeben, es je wieder zu können. Denn egal wie sie mich ansehen, mich anlächeln oder mich anfassen, es wird nie so sein wie bei ihr. Und das tut einfach nur unglaublich weh.
Nach etlichen Minuten in denen ich mich langsam wieder beruhigt habe und der vertraute Schmerz in meine Brust zurückgekehrt ist, setze ich mich langsam wieder aufrecht hin und werfe einen vorsichtigen Blick auf den Fernseher. Dort läuft zum Glück gerade Werbung und ich atme erleichtert aus, während meine Augen durch die akribisch saubere und ordentliche Wohnung wandern und schließlich an dem Brief meiner Mutter hängen bleiben, der noch immer auf der Kommode herumliegt. Putzen und aufräumen mag zwar für die meisten Leute etwas sehr nervtötendes und langweiliges sein, doch für mich ist es das einzige, was mich beschäftigt hält, wenn es gerade einmal ganz schlimm ist.
Und wieder einmal wünsche ich mir ich hätte sie nie getroffen und würde jetzt ein ganz normales Leben leben. Ohne Collin und alles was damit zusammen hängt. Obwohl auch er kurz nach ihrem Verschwinden nicht mehr in meiner Nähe auftauchte. Ein ernüchterndes Ergebnis für einen hohen Preis.
Seufzend stehe ich auf und gehe langsam zu der Kommode hinüber um den weißen Umschlag in die Hand zu nehmen, der dort schon seit gestern herumliegt. Auf dem beschriebenen Papier in ihm steht nur wie sehr sich meine Eltern Sorgen um mich machen und wie weh es ihnen tut mich so leiden zu sehen und der Kummer darüber nicht mehr zu mir vordringen zu können. Nicht mehr über die Mauer blicken zu können, die ich um mich herum errichtet habe, wie meine Mutter es nannte. Und irgendwie hat sie Recht damit. Nur bin ich inzwischen so darauf konzentriert diese Mauer zu errichten, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe wie ich den Menschen, die ich liebe, wieder Zutritt verschaffen soll. Es bleibt mir ein Rätsel.
Das schrille Klingeln an meiner Wohnungstür reißt mich aus meiner Starre und lässt mich zusammenzucken. Mit gerunzelter Stirn, wer mich um 19:00 Uhr abends noch besuchen will, gehe ich zur Tür und öffne sie einen Spalt breit.
"Du siehst fertig aus", ist das einzige was Chloe sagt, während sie sich an mir vorbei in den Flur drängt.
"Mir geht es auch nicht gut", antworte ich ihr genervt und schließe die Tür, um Chloe anschließend ins Wohnzimmer zu folgen.
"Ich weiß. Dir geht es scheiße seit Ashl-"
"Nein!"
Sie sieht mich mit großen Augen an, während ich zitternd die Arme vor der Brust verschränke, wo bereits ein gewaltiger Stich das Ausmaß der Katastrophe angekündigt hat, wenn Chloe noch eine weitere Silbe sagt.
"Sag es einfach nicht..."
Meine Stimme sollte eigentlich gleichgültig oder wenigstens wütend oder ärgerlich klingen, doch stattdessen zittert sie genau wie mein Körper und ich schäme mich dafür so schwach zu sein. Zum Glück geht meine beste Freundin nicht weiter darauf ein und schluckt nur halb ihren Ärger herunter, um dann erneut das Wort zu ergreifen.
"Jedenfalls versuche ich dich seit Stunden zu erreichen und da du ja weder an dein Telefon noch an dein Handy gehst, geschweigedenn deine Nachrichten beantwortest, sah ich mich gezwungen persönlich hier aufzukreuzen."
"Und wozu?", frage ich betont gelangweilt und will an Chloe vorbei wieder zu meinem Sofa gehen, als sie mich am Arm packt und mich festhält.
"Oh nein, Liz! Du wirst dich nicht wieder in deine Couch vergraben und tagelang nicht mehr hervorkommen! Mir reicht es langsam! Ich habe es akzeptiert, dass du erst einmal Zeit für dich brauchst um mit deinen Gefühlen klar zu kommen und auch nach Wochen noch habe ich versucht dich aufzubauen, doch du stößt jeden von dir, der dir helfen will! Und jetzt sind Monate vergangen Liz, Monate, und du verschanzt dich immer mehr in dir selbst und in deiner Wohnung, die niemand betreten darf. So geht das nicht weiter."
Chloe packt mich an beiden Schultern und sieht mir tief in die Augen. In ihren spiegelt sich die ehrliche Sorge um mich und sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen nicht nur mir, sondern auch noch meiner Freundin mit meiner Einsamkeit weh zu tun.
"Lass dieses Mädchen nicht dein ganzes Leben zerstören, Liz", ihre Stimme ist jetzt beschwörend,"du bist jung, dir steht die Welt offen und du solltest es nutzen solange du noch kannst! Und auch wenn es noch Jahre dauern wird bis du sie ganz vergessen hast, du wirst es nie schaffen wenn du nicht wieder am Leben teilnimmst! Wo alle, die dich lieben und schätzen auf dich warten und vielleicht sogar der Mensch, mit dem du den Rest deines Lebens verbringen möchtest. Auch wenn du dir das jetzt noch schlecht vorstellen kannst."
Sie beendet ihre Rede und sieht mich erwartungsvoll an. Und auch wenn ich mich jetzt am liebsten in meinem Bett verkrochen hätte um in Ruhe über ihre Worte nachdenken zu können, nicke ich einmal kurz und unsicher. Doch das reicht Chloe.
"Na endlich, dann komm."
Ich schüttle verständnislos den Kopf.
"Wohin denn? Bitte nicht wieder eine Disko oder sowas Chloe!"
Meine beste Freundin schüttelt nur lächelnd den Kopf und zieht mich in mein Schlafzimmer.
"Viel besser! Ein Winterball!"
Ich sehe sie nur fragend an und Chloe seufzt gottergeben.
"Du hast auch wirklich nichts mitbekommen. Unsere Schule feiert heute Abend einen Ball und alle Schüler und Lehrer sind dazu eingeladen. Winterball eben."
Ich weiche augenblicklich ein paar Schritte zurück.
"Bitte nicht."
"Keine Widerrede! Ich habe schon gesagt, dass du kommst und jetzt probier dieses Kleid an. In einer halben Stunde müssen wir weg!"
_______________
Die Musik wechselt von einem schnellen Takt in ein langsames Liebeslied und ich verdrehe genervt die Augen. Tom neben mir schmunzelt nur und stellt sein Sektglas auf den kleinen Stehtisch vor uns. Außer mir und ihm ist keiner mehr bei uns, doch Chloe unterhält sich ein paar Meter weiter mit Phil und ein paar anderen Kollegen, wobei sie ständig zu uns herüber sieht, wohl um zum einen zu schauen ob ich noch da bin und mir zum anderen bedeutungsvolle Blicke zuzuwerfen. Aber ich schüttle jedes Mal nur den Kopf. Tom ist zwar ein netter Typ und auch ungefähr in meinem Alter, aber ich will nichts mit einem Kollegen anfangen. Jedenfalls rede ich mir das ein.
"Magst du auch keine Schnulzen?", fragt er plötzlich und macht eine ausholende Bewegung mit der Hand, als ich ihn nur verwirrt ansehe,"dieses Lied..."
"Ach so, nein ich bin momentan nicht sehr gut auf Liebeslieder zu sprechen", lasse ich ihn wissen und sehe dabei nachdenklich den Schülerpaaren zu, die sich langsam im Kreis drehen und so zur Musik tanzen.
"Hast du dich von deinem Freund getrennt?", will Tom wissen und ich zwinge mich zurück in seine braunen Augen zu sehen, die mich fast ein wenig mitleidig mustern.
"So ähnlich...", murmle ich nur und hoffe dass er mich über die Musik hinweg überhaupt verstanden hat. Ich will das Thema so schnell wie möglich beenden, doch er gibt mir keine Chance.
"Hab ich mir fast gedacht. Der Liebeskummer war dir deutlich anzusehen in letzter Zeit. Muss ja ein schrecklicher Typ gewesen sein, wenn er dich so traurig gemacht hat... Aber glaub mir, er ist es nicht wert."
Ich weiß, dass Tom mir vermutlich nur Mut machen will, doch es geht deutlich nach hinten los. Auf meiner Stirn sammelt sich Schweiß und in meinen Augen glitzern vermutlich schon die Tränen, also presse ich ein "Entschuldigung" hervor und flüchte so schnell ich kann aus der festlich geschmückten Aula auf die Toilette.
Dort angekommen muss ich erst darauf warten, dass zwei Kolleginnen den Raum verlassen, bevor ich mich an den Waschbecken vor dem Spiegel abstützen kann und mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfe, die bereits heftig in meinen Augen brennen. Allerdings ist das wohl das kleinere Übel, denn Toms Worte haben erneut einen tiefen Schnitt in mein, sowieso schon zerschundenes Herz, gestochen. Ich weiß nicht woran es liegt, aber ich konnte es einfach nicht ertragen, dass jemand sie schrecklich nennt. Obwohl sie mir so viel Kummer bereitet und beinahe jede Nacht nur unter Tränen einschlafen lässt, könnte ich jeden anschreien der auch nur ein schlechtes Wort über sie verliert. Möglicherweise tut auch einfach nur alles weh, was mit ihr zusammenhängt.
"Was machst du hier?"
Ich schrecke hoch und sehe durch den Spiegel Chloe in der Tür stehen, einen ärgerlichen Ausdruck im Gesicht,"und warum lässt du Tom einfach so stehen!"
Ich stoße mich vom Waschbecken ab und trete ganz nah an Chloe heran.
"Ich gehe nach hause. Und zwar jetzt."
Sie blitzt mich nur verärgert an und schüttelt den Kopf. Die Zähne aufeinander gebissen und mit einer tiefen Falte auf der Stirn. Ich kenne diesen Ausdruck.
"Was ist los Chloe?"
Meine Stimme ist vollkommen ruhig, doch ich durchbohre meine beste Freundin mit meinem Blick.
"Du gehst jetzt nicht zurück, Liz!"
Sie stellt sich noch enger vor die Tür, doch in mir kommt langsam die Wut hoch, da Chloe mich wie ein kleines Kind behandelt.
"Das werden wir ja sehen."
Und blitzschnell ziehe ich die überraschte Chloe zu mir womit sie wohl nicht gerechnet hatte und bekomme sie so von der Tür weg. Mit aller Kraft schubse ich sie zur Seite und nutze die Zeit, in der sie nach hinten strauchelt, um durch die Tür zu entwischen. Auf dem Gang beginne ich zu rennen und mache mir nichts aus den Schülern, die mich komisch ansehen. Ich will einfach nur heim und mir ist egal, dass ich dafür die halbe Nacht laufen muss.
Der Gang führt mich in die Aula, aus der ich vorhin geflüchtet bin und ich stoppe kurz, um mir einen kurzen Überblick zu verschaffen, als mein Herz plötzlich stehen bleibt.
Ich höre nicht, dass Chloe hinter mir keuchend zum stehen kommt und nur ein "Oh scheiße!" zwischen den Zähnen hervor presst. Ich sehe auch nicht, wie Tom besorgt auf uns zu kommt und Phil ihm hinterher läuft.
Ich sehe nur Ashlee.
Ich verliere mich in der Farbe ihrer Haare, die sanft über ihre Schulter fallen.
Ich kann mich nicht von der perfekten Figur losreißen, die mir vertrauter ist als jeder meiner Freunde.
Und mein Blick wird von dem wunderschönen Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den vollen, roten Lippen und den strahlendblauen Augen gefangen genommen, die sich jetzt alarmiert im Raum umsehen.
Ich sollte mich umdrehen und laufen so schnell ich kann, doch ich bewege mich nicht. Und dann geschieht es.
Unsere Augen finden sich.
Und ich renne.
Ich renne so schnell ich kann.
Hinaus aus der Schule, über den Parkplatz und über die Straße.
Mein Atem geht stockend und meine Lungen brennen, doch ich jage nur noch schneller über die Wiese und auf den dunklen Wald zu.
Ich will einfach nur entkommen. Ich will dem höllischen Schmerz entkommen und ich will ihn tief in mir vergraben. Ich will ihn nie wieder fühlen.
Doch kurz bevor ich den schützenden Waldrand erreiche, schlingt sich ein Arm um meine Hüfte und eine unglaubliche Kraft reißt mich zurück.
"Liz!"
Ich presse die Augen fest zusammen und drücke mit aller Kraft gegen ihre Brust, aber ich komme nicht frei. Ein zweiter Arm legt sich um meinen Oberkörper und verdoppelt so meine Gegenwehr, doch egal was ich auch versuche es klappt nicht.
"Liz, sieh mich an."
Ihre Stimme durchdringt mich und entlockt mir ein ersticktes Keuchen und als mich auch noch ihr vertrauter Duft umgibt, passiert etwas in mir.
Die tiefe Wunde in meiner Brust beginnt langsam zusammenzuwachsen bis nur noch ein kleiner Schnitt übrig ist. Der Schmerz flaut ab und hinterlässt eine seltsame Wärme, die augenblicklich durch meine Venen schießt und meinen Körper erzittern lässt.
Und von einem unglaublichen Drang überwältigt öffne ich langsam die Augen, um in das schönste Blau zu sehen, das es auf dieser Erde gibt.
Ich warte nur darauf, dass mich der Schmerz gleich zerreißen wird, doch stattdessen beginnt etwas in meiner Brust zu schlagen. Leise und zaghaft.
Ich kann es nicht länger verhindern. Meine Beine geben nach und die Tränen fließen über meine Wangen. Und so sinke ich in Ashlees Armen zu Boden, während ich ihre weichen Lippen an meinem Hals spüre und ihre starken Arme um meinen Körper.

In diesem Sinne doch noch frohe Weihnachten ;)
LG

With you everything changedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt