Julien

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Es dauert wirklich nur kurz, bis Ashlee wieder zurückkommt, allerdings wirkt sie wütend und angespannt, das kann ich sogar bei der Dunkelheit erkennen. So wie vorher lässt sie sich auf ihren Platz fallen neben mir fallen, aber diesmal besteht keine Chance wieder Körperkontakt mit ihr herzustellen.
Die restlichen Minuten des Films verbringen wir schweigend. Es ist seltsam, denn trotz ihrer schlechten Stimmung fühle ich mich sofort wieder zu ihr hingezogen und würde am liebsten nach ihr greifen, um sie beruhigend zu streicheln. Aber das geht natürlich nicht.
Als das Licht angeht, quatschen sofort alle durcheinander, nur Ashlee sitzt stumm in ihrem Sitz und sieht mittlerweile besorgt auf die dunkle Leinwand.
"Alles okay bei dir?", frage ich schließlich vorsichtig, auch wenn ich das Gefühl habe, ich sollte sie nicht ansprechen.
"Alles gut", lautet ihre knappe Antwort. Ich höre die unterdrückte Wut deutlich heraus.
"Dann komm mit", sage ich und stehe auf. Der größte Teil meiner Schüler ist bereits aus dem Kinosaal verschwunden.
Nachdenklich gehe ich Ashlee voraus nach draußen und überlege ununterbrochen, was wohl passiert sein muss, um sie so wütend zu machen. Ob sie Streit mit ihrem Freund hat? Oder ihrer Freundin? Beste Freundin?
Jede Antwort versetzt mir einen schmerzhaften Stich. Ich will gar nicht daran denken, dass sie bereits vergeben sein könnte. Ich halte das nicht aus.
"Wir müssen noch dreißig Minuten auf den nächsten Bus warten", gebe ich bekannt, als wir schließlich vor dem Kino stehen,"wenn ihr wollt, könnt ihr noch etwas zu essen kaufen gehen, bis wir zur Bushaltestelle müssen."
Mein Vorschlag findet allgemeine Zustimmung und schon bald sind die Jugendlichen in kleinen Gruppen unterwegs und in den verschiedenen Cafés verschwunden. Nur zwei Schüler sind bei mir geblieben.
Ashlee hat sich auf eine Bank gesetzt und sieht wieder konzentriert auf ihr Handy, dabei beißt sie sich auf die Lippe und das lässt mein Herz augenblicklich auf und ab springen.
Der andere Schüler ist ein junger Mann. Ich erinnere mich daran, dass er Julien heißt und laut Chloe der meist begehrteste Junge an der Schule ist, natürlich nach den Saper-Brüdern. Ich mustere ihn unauffällig und muss zugegen, dass er wirklich gut aussieht. Das dunkelbraune Haar, ist kurz und oben am Kopf etwas länger, was ihm ein lässiges Erscheinungsbild verleiht. Allerdings scheint er sich seines guten Aussehens durchaus bewusst zu sein, denn eine leichte Arroganz strahlt permanent von ihm aus.
Es mag vielleicht an mir liegen, aber ich kann Chloe's Erzählungen keinesfalls zustimmen. Sie meinte, wenn sie etwas jünger wäre, Phil nicht hätte und keine Lehrerin wäre, dann würde sie sich wohl in Julien verlieben. Vorausgesetzt die Saper-Geschwister würden immer noch niemanden an sich heranlassen.
An dieser Stelle musste sie herzhaft lachen und konnte mir ein schmunzeln nicht verkneifen. Aber jetzt, wo Julien vor mir steht, lässt er mich vollkommen kalt. Er hätte auch ein zehnjähriges Kind sein können, ich fühle nicht die geringste Anziehung ihm gegenüber. Darum bin ich auch etwas überrumpelt, als er mich plötzlich anspricht.
"Ich hätte nicht gedacht, dass der Film noch so interessant werden würde."
Seine Stimme ist tief, aber ein seltsam schmieriger Ton liegt in ihr, der mich innerlich das Gesicht verziehen lässt.
"Ja das geht vielen so", antworte ich ruhig, obwohl ich nicht viel von dem Film mitbekommen habe und bleibe gelassen stehen, als Julien auf mich zu kommt und sich mir gegenüber stellt.
"Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir eine so nette Lehrerin in diesem Fach haben", lächelt er und fährt sich durch die Haare, was mir nur ein müdes Lächeln entlockt. Ich fühle mich unwohl in seiner Gegenwart und sein offensichtliches Flirten irritiert mich auch. Warum unterhält er sich mit mir, wenn er auch mit Ashlee reden könnte. Ich frage mich das so lange, bis mir einfällt, dass Ashlee ja mit keinem spricht. Mit keinem außer mir.
Diese Erkenntnis wärmt mir ein wenig das Herz und so kann ich Juliens Schmeicheleien auch noch die letzten Minuten ertragen, bis wir wieder im Bus zur Schule sitzen.
Ich bemerke sehr wohl, dass irgendetwas mit Ashlee ist, aber ich kann mir keinen Reim darauf machen, auch nicht, als der Bus an der Schule hält und alle ausgestiegen sind.
Es ist bereits 12:47 Uhr und so entlasse ich meine Schüler nach Hause. Danach mache ich mich auf den Weg zur Schule und zu meiner größten Überraschung folgt mir ein wunderschönes Mädchen mit strahlend blauen Augen. Sie läuft mit kleinem Abstand neben mir her.
"Julien kann sehr aufdringlich sein", beginnt sie plötzlich und ihre Stimme ist ganz ruhig, was ein warmes Gefühl in mir auslöst.
"Das habe ich gemerkt", gebe ich mit einem Lächeln zu und verlangsame meine Schritte, um mehr Zeit mit Ashlee zu haben. Ich genieße jede Sekunde, die ich in ihrer Nähe sein darf.
Sie lächelt ebenfalls und entlockt mir so ungewollt ein Strahlen. Ich habe sie zum Lächeln gebracht!
"Ich wollte Sie eigentlich nur vorwarnen", sagt Ashlee plötzlich wieder ernst und ich sehe sie fragend an.
"Vor was?"
"Ihr Bekannter aus dem Restaurant ist hier. Er wartet auf Sie."
Ich bin so überrascht, dass ich vergesse sie zu fragen, woher sie das überhaupt weiß. Stattdessen kommt ein peinliches Quieken aus meiner Kehle.
"Collin?"
Ich räuspere mich sofort und versuche ruhig zu bleiben. Ashlee sieht mich ernst an.
"Okay, dann werde ich wohl mit ihm reden müssen."
"Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich während des Gesprächs in Ihrer Nähe bleibe?", fragt sie und sieht mich bittend an. Wie soll ich diesem Blick widerstehen?
"Nein...du kannst gerne mitgehen", antworte ich und füge etwas sehr unüberlegtes hinzu,"es würde mich beruhigen."
Ashlee lächelt erneut trotz ihrer angespannten Körperhaltung und hält mir die Tür zur Schule auf.
"Nach Ihnen."

With you everything changedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt