Overthink

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Ich sehe Melissa an. Sie zwinkert mir zu. »Mach dir nicht zu viele Gedanken. Es ist zwar wirklich verrückt, aber wieso willst du dir diese Chance entgehen lassen? Denk darüber nach, Venice. Natürlich könntest du dein Leben riskieren. Aber dann hättest du zumindest etwas erlebt.« Ihre braunen Augen strahlen eine unglaubliche Überzeugung aus. Ich bin so gewillt, ihr zu glauben, aber was bleibt, sind die vielen Zweifel. Das Risiko. Die Tatsache, dass es Robin ist, der Robin, der mir einen Tag zuvor das Leben nehmen wollte. Der Robin, der mich heute Nacht geküsst hat. Der Robin, der mich meine komplette Existenz überdenken lässt.
In dem Moment, in dem ich mich meinen Gedanken hingeben will, wird die Tür unsanft von Mr. Chains aufgeschlagen. »Ich bringe ihn um. Ich bringe ihn sowasvon um.«, knurrt er mit zusammengebissenen Zähnen. »Wen, Mr. Chains?«, fragt Melissa interessiert, nachdem unsere Unterhaltung so jäh unterbrochen wurde. Mr. Chains lacht trocken auf. »Wen? Robin Brooks natürlich! Dieser Mann bringt mehr Papierkram als etwas anderes und hat schon zwei Menschen in den Tod gerissen. Und jetzt ist er weg.« Mir weicht die Farbe aus dem Gesicht. »Wie, weg?«, frage ich, vielleicht eine Spur zu ängstlich. »Er ist weg! Abgehauen!« Mr. Chains klatscht in die Hände. »Und wenn ich den Kerl in die Finger kriege, hat sein letztes Stündlein geschlagen.« Seine Stimme klingt kalt und schneidend. Aber ich schenke seinen letzten Worten keine Beachtung. Ich denke nur daran, dass er weg ist. Weg. Weg. Nicht mehr da. Die Information dringt nicht zu mir durch. Er ist weg, und ich bin noch hier. Einige Minuten ist es stumm im Zimmer, bis sich die Tür ein weiteres Mal öffnet. Und in ihr steht Jack. Ein triumphierendes Lächeln liegt auf seinen Lippen. »Er ist wieder da.« Erschöpft lässt sich Mr. Chains auf seinem wuchtigen Sessel fallen. »Ein Glück. Achten Sie ja darauf dass er nicht wieder abhaut. Ich werde mich nachher um ihn kümmern.« Jack nickt stolz und wirft mir einen kurzen Blick zu. »Keine Sorge, Mr. Chains. Ich künmere mich darum, dass er für immer da drin bleibt. Er kommt da nicht raus.« Ich lache in mich hinein. Ach komm schon, Jack. Mach nicht den Fehler und unterschätze Robin Brooks! Er ist die letzte Person, die kampflos in einer Zelle verschmoren würde. Verlass dich darauf.

Melissa hat Recht. Es ist Robin. Robin Brooks. Die gefährlichste und zugleich anziehendste Person, der ich je begehnet bin. Es gibt einen Grund, warum einem Menschen in das Leben treten. Und diesen Grund muss man herausfinden.
Ich verbringe den Mittag in meinem Zimmer. Es ist mir so vertraut geworden in den letzten Monaten. Und die Aussicht ist einfach perfekt. Wie ein kleines Stück Weltherrschaft, obwohl ich nur die raue Landschaft, mit ihrer ungebändigten Wildnis sehe. Aber das macht es so besonders. Perfektion auf eine so unvollkommene Art. Keine Regeln, keine Gesetze. Nur der Wille zählt. Einlass in diese Welt erhalten nur die, die einen Schritt aus der Routine machen. Die sich nicht an die Werte der Gesellschaft klammern, um sich gut zu fühlen. Die, die so sind, wie Robin Brooks.
Ich will mich nicht von diesem atemberaubenden Anblick losreißen, doch ich muss es tun. Ich stehe schon zu lange herum, ohne etwas bedeutendes zu tun.
Und zwar schon mein Leben lang. Ich hangele mich entlang an der Kette des Lebens. Schule. Guter Abschluss. Studium. Arbeit. Geld. Arbeit. Sterben.
Wie Milliarden andere Menschen auch, und keine Person, die sich traut, es anders zu machen. Unterbewusst lächele ich. Ich kann vieles behaupten, doch Robin hat meine Sicht auf die Welt auf seine ganz eigene Art verändert. Er hat mich in seiner Gewalt, hat mich voll und ganz in der Hand, und er kann mit mir machen, was er will. Würde er mich eine Klippe hinabstürzen,würde ich fallen. Und das mit einem Lächeln im Gesicht.
Und mein Entschluss steht entgültig fest. Ich werde ihm folgen.

Robin BrooksWo Geschichten leben. Entdecke jetzt