Pünktlich zum Tagesbeginn, sprich pünktlich zu Mr. Chains alltäglicher Ansprache, bin ich wach und starre gedankenverloren an meine Zimmerdecke. "Guten Morgen. Es ist acht Uhr." Ich lächele, als ich diese gewohnte Stimme höre und gleichzeitig verabscheue ich es. Es ist genauso Routine wie die Tatsache, dass Alex gleich hier erscheinen und mir mein Frühstück überreichen wird, genauso Routine wie die Tatsache, dass ich mich umziehen und einen prüfenden Blick in den Spiegel werfen werde, wie ich essen und mich fertig machen werde, wie ich Timber einen Besuch abstatten und meinen Nachmittag in meinem Zimmer, über zahlreichen Unterlagen, vergeuden werde. So wie jeden Tag. Jeden und jeden und jeden Tag aufs Neue.
Bis heute Nacht. Denn ich habe mir fest in den Kopf gesetzt, morgen um diese Uhrzeit diesen Ort verlassen zu haben. Dieser Gedanke motiviert mich zum Aufstehen. Ich strecke mich noch einmal genüsslich, bevor ich zur Tür gehe. Genau zeitgleich klopft jemand von der anderen Seite dagegen. "Venice, bist du wach?", höre ich Alex Stimme gedämpft durch die massive Holztür. Als Antwort öffne ich sie und schenke Alex ein begrüßendes Lächeln. "Guten Morgen. Ich muss schon sagen, du siehst frisch wie eh und je aus, meine Liebe!" Alex Enthusiasmus springt wie ein Funken auf mich über. "Dankeschön. Naja, ich würde sagen, heute wird ein sehr erfolgreicher Tag." Alex lächelt leicht und dieses Lächeln erreicht seine braunen Augen. "Diese Einstellung gefällt mir. Das solltest du unbedingt beibehalten. Ich bin jetzt zwar nicht so der mega Psychologe, aber ich weiß, dass man, wenn man einen Tag mit einem Lächeln beginnt, den ganzen Tag glücklich ist." Ich schüttelte belustigt den Kopf. "Du kannst dir eine Menge einreden, aber es hilft auf jeden Fall." Alex nickt und zwinkert mir noch ein weiteres Mal zu, bevor er sich wieder seinem Wagen zuwendet. Während er den Gang entlangläuft, beobachte ich ihn. Alex wird mir fehlen. Er ist die Ruhe in Person und die positive Person in meinem Leben. Ich schließe die Tür, immer noch mit einem ruhigen Lächeln auf den Lippen und wende mich meinem Frühstück zu. Rührei mit Speck, simpel und doch so bedeutend. Während des Essens verliere ich so langsam meine feste Einstellung von gestern. Vielleicht ist es wirklich besser, wie es jetzt ist? Vielleicht reicht mir das ja. Ein einfaches Leben, das Wissen, dass immer alles in bester Ordnung sein wird- Nein. Kopfschüttelnd stehe ich auf und drehe mich um. Ich brauche mehr als das. Ich brauche Robin. Ich leite meinen Blick auf den Boden, starre auf die Musterungen im Holz. Dabei fällt mir etwas auf, dass zu 100% gestern Abend noch nicht auf diesem Boden lag. Ein sorgfältig zusammengefaltetes Blatt Papier, das feinsäuberlich am Fuß meines Bettes abgelegt wurde. Mit gerunzelter Stirn hebe ich es auf und falte es vorsichtig auseinander. Eine Gänsehaut jagt über meinen gesamten Körper. Es ist genau die Zeichnung, die Robin damals gezeichnet hat, als ich ihm das erste Mal begegnet bin. Die Linien, die ins Nichts führen, Symbole, Musterungen. Eindeutig Robins Werk, und das kann nur eins bedeuten: Dass er in genau dieser Nacht hier an meinem Bett gestanden ist, mich beobachtet hat, Jack überlistet hat. Das verstärkt die ohnehin schon vorhandene Gänsehaut. Aber warum hat er diese Zeichnung hier abgelegt? Ich wende das Blatt in alle Richtungen, aber es gibt nichts, das das Bild auffällig gemacht hätte, keine versteckte Notiz, kein auffälliges Muster. Nichts. Ich lege es auf meinen Schreibtisch und schließe die Augen, versuche, Robins Präsenz zu spüren.
"Timber. Timber, wach auf." Mit dem Gesicht zur Wand liegt das knochige Mädchen in ihrem Bett. Ich weiß dass sie wach ist. Aber sie regt sich nicht. Ich knie vor ihrem Bett und rüttele sanft ihre Schulter. "Bitte, Timber." Sie setzt sich langsam auf. Und sie sieht nicht gut aus. Ihr Gesicht ist aschfahl und violette Augenringe zeichnen sich stark unter ihren geröteten Augen ab. Sie sitzt in einem T- Shirt vor mir, ihre Arme sind genauso bleich und dünn wie ihr Gesicht, dutzende Narben verzieren ihre inneren Handgelenke und Unterarme. Einige von ihnen sind verheilt, andere deuten noch auf ihr früheres Leben an. Als Timber meinen Blick auf ihre Narben bemerkt, zieht sie die Decke über ihre Arme. "Na also, geht doch." Ich versuche es mit einem aufmunternden Lächeln, doch Timber sieht mich nur mit schräg gelegtem Kopf verwirrt an. "Woher der plötzliche Sinneswandel? Gestern hast du doch gar nicht genug davon bekommen, mich fertig zu machen." Nun grinse ich sie an. "Oh, glaub mir, ich würde dich liebend gern weiter fertig machen, aber erstens trägst du keine Zwangsjacke mehr und zweitens werde ich dich heute verschonen. Ich bin viel zu gut gelaunt, als dass ich mich über eine Pubertierende aufrege.", kommen die Wörter aus meinem Mund, ohne dass ich groß darüber nachdenke. Und ich zwinkere ihr kurz zu. Sie schließt verletzt die Augen. Es ist ihr anzusehen, dass sie nicht halb so draufgängerisch gelaunt ist wie noch vor zwei Tagen. Im Gegenteil. Sie ist geschwächt und verletzt. Und zerbrechlich. So, dass ich beinahe Mitleid mit ihr habe. Aber nur beinahe. Denn ich habe normalerweise nicht so schnell Mitleid mit Leuten, die mich umbringen wollen. Normalerweise.
Wobei du da mit Robin eine ziemlich große Ausnahme machst, findest du nicht?
Die Stimme in meinem Kopf klingt beinahe vorwurfsvoll. Aber ich höre nicht auf sie. Im Moment gilt nur, dass ich hier bei Timber bin, der einzigen Patientin, die mir schlussendlich geblieben ist. "Timber, lass uns anfangen. Lass uns das heute noch hinter uns bringen, in Ordnung?" Sie starrt kurz auf den Boden, der hier aus großen grauen Linoleumplatten besteht, bevor sie mich ansieht und nickt. Dann setzt sie sich zu mir an den Tisch und verschränkt die dürren Arme vor ihrer Brust. "Ich habe mir etwas für dich überlegt. Was du brauchst, ist eine Verhaltenstherapie." Timber sieht mich ausdruckslos an. "Aber das ist nicht alles. Wenn du dich das nächste halbe Jahr gut durch diese Therapie schlägst, wirst du zu einer Gastfamilie kommen. Aber nur vorübergehend. EIN Fehltritt, und du landest wieder hier. Haben wir uns verstanden?" Überrascht weiten sich Timbers Augen, während ich mein Vorhaben in ihren Unterlagen kennzeichne. Dann schnappe ich mir den Ordner und stehe auf. "Das wäre es auch. Hast du noch etwas dazu zu sagen?" Timber schweigt kurz. Dann deutet sie ein leichtes Lächeln an. "Danke, Venice." Ich nicke zufrieden. Ich wende mich schon zum Gehen ab, bevor sie mich noch kurz zurückruft. Ich sehe sie an, und ich sehe, dass sie glücklich ist. "Es tut mir Leid."
Die Nacht ist hereingebrochen, eine sternenklare Dunkelheit hat sich schleichend über den Himmel gelegt. Ich sitze in meinem Bett, müder, als ich es erwartet habe, und versuche mich wachzuhalten. Nur leider gelingt mir das nur sehr schwer. Meine Augenlider werden immer schwerer.
Nicht einschlafen, Venice. Du musst wachbleiben. Du musst wach bleiben. Du musst wach...
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Robin Brooks
Teen FictionVenice Porter hat endlich ihr Studium fertig bekommen- Psychologie. Aber so ganz glücklich ist sie mit ihrem neuen Arbeitsplatz nicht. Nicht nur, dass sie fernab von ihrem Zuhause in Charlottestown arbeiten muss, und dieser Ort wie geschaffen für ei...