Geradezu unheimlich

98 5 0
                                    

Mist, ich komme zu spät, dachte das Mädchen sich und presste ihre Schultasche noch fester an sich, während sie eilig durch den Schulgang lief, den Blick stur auf den Boden gerichtet. Gegen ihren Willen kam es ihr vor, als würden alle Schüler, die sich noch in den Gängen aufhielten und in der ersten Stunde offenbar keinen Unterricht hatten, sie anstarren, als würde all das Getuschel, dessen Ursprung oder Inhalt sich nur schwerlich zuordnen ließ, allein ihr gelten. Aber das ist Unsinn, erklärte sie sich selbst fest entschlossen und versuchte, dieses klamme Gefühl in ihrem Inneren zu ignorieren. Als ob ich so interessant wäre ...

Ihr Weg führte sie hinauf in das oberste Stockwerk, doch schon im zweiten hielten sich kaum noch Schüler auf, wie es aussah. Darüber war sie sehr erleichtert und sie mäßigte ihren Schritt wieder ein bisschen. Statt dem sonst allgegenwärtigen Geraune und Geflüster herrschte hier oben während der Unterrichtszeit eine beinahe gespenstische Stille, das altertümliche Schulgebäude verstärkte diesen Eindruck nur noch. Jeder ihrer Schritte hallte von den Wänden wider, und ihr eigener Atem kam ihr viel zu laut vor.

Als das Mädchen einen Fuß auf die Treppe ins oberste Stockwerk setzte, bemerkte sie plötzlich, dass ihr jemand entgegengekommen war, jemand, den sie aufgrund ihres gesenkten Blickes und ihrer Eile überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Doch als sie das realisierte, war es bereits zu spät, um noch zu reagieren. Sie prallte kurz und hart gegen ihren Mitschüler, verlor auf der Treppenstufe das Gleichgewicht und ehe sie sich versah, setzte sie sich reichlich unelegant auf den Hintern, und das mit einer Wucht, dass es schmerzte.

Heut' ist echt nicht mein Tag, dachte sie resigniert, tastete ohne hinzusehen nach ihrer Schultasche und hob schließlich den Blick.

Sie blickte in ein furchtbar bleiches Gesicht mit ausdruckslosen Augen unter gesenkten Lidern, und als sie sich nicht rührte, kniete der Junge, den sie gedankenverloren angerempelt hatte, vor ihr auf den Boden, eine Hand über sein Knie gelegt.

„Ist ... alles ... in Ordnung?", wollte er dann leise wissen, fast als wollte er die Stille nicht stören. Er hatte eine tiefe und angenehme Stimme, jedoch sprach er langsam ... sehr langsam.

So langsam, dass das Mädchen, das noch immer am Boden saß, einige Sekunden mehr benötigte, um den eigentlichen Inhalt seiner Worte wirklich zu begreifen. „Äh ... ja", antwortete sie dann verwirrt und drückte ihre Schultasche wieder an ihren Oberkörper, als würde sie damit eine Barriere zwischen sich und ihm aufstellen. „Tut mir leid, ich hab' nicht aufgepasst", murmelte sie anschließend peinlich berührt und fuhr sich nervös durch die Haare.

Der Junge schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nein ...", sagte er bloß und dann hielt er ihr seine Hand hin. „Es ist ... meine Schuld ... gewesen", fügte er stockend hinzu.

Einen Moment lang zögerte sie, die Situation kam ihr auf irgendeine Weise albern und reichlich merkwürdig vor, vermutlich, weil sie so klischeebelastet war, aber auch noch irgendetwas anderes störte sie daran, doch dann gab sie sich endlich einen Ruck und griff doch nach seiner Hand, ließ sich von ihm aufhelfen.

Und obwohl er ziemlich schlaksig und ... in gewisser Weise kränklich, beinahe zerbrechlich aussah, hatte er eine Menge Kraft. Mann, was für kalte Hände, dachte das Mädchen jedoch nur verwundert und drückte die Schultasche wieder an ihre Brust, eine Geste, die ihr schon seit jeher so etwas wie Sicherheit gab.

Nun bemerkte sie, dass sie und der Junge etwa gleich groß waren, zum ersten Mal sah sie ihn richtig an, erfasste die dunklen Haare und die seltsam leeren Augen, dieses jungenhafte, eigentlich sehr hübsche Gesicht. Aber er war ungewöhnlich blass. Als eines der ersten Dinge jedoch fiel ihr weißer Stoff ins Auge, der um seinen Hals gewickelt war.

Diabolik Lovers ~ Bloody IncisionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt