#48

12 3 7
                                    

Lea

Regungslos saß sie da, starrte abwesend auf die schneebedeckte Landschaft unter ihr.
Von ihrem Standpunkt aus hatte sie den perfekten Blick über das Tal.
Wie friedlich das alles aussah.
Es war eine schöne, wolkenfreihe Nacht, kein Laut störte die natürliche Ruhe.

Der große Wald lag still da, von den schneebedeckten Wipfeln fiel hin und wieder etwas Schnee auf den Boden.
Die reinweiße Schicht gab dieser Gegend etwas unschuldiges und zauberhaftes, wie in einem Märchen. Am Himmel glitzerten unzählige Sterne, wie atemberaubende Juwelen an einer Kette reihten sie sich aneinander.

In Momenten wie diesen wurde ihr fast schmerzlich bewusst, wie schön die Welt doch war.
Eine vollkommene, einzigartige Schönheit mit unglaublich vielen Facetten.
Unwillkürlich streckte Lea die Hand aus, wirkten die Sterne doch zum Greifen nahe.
Aber die Wahrheit ließ sich nicht verstecken.

Egal wie sehr der Schein auch täuschen mochte, sie wusste was sich hinter dem trügerischen Bild verbarg. Langsam ließ sie ihre Hand wieder sinken.
Hinter diesen Wäldern, in den Dörfern und Städten der Menschen, zeichneten Hass, Betrug und Lüge das Angesicht der Erde.
In ihrem immerfort bestehenden Verlangen nach Macht bekämpften sie sich gegenseitig und zogen in sinnlose Kriege, zerstörten dabei die natürliche Schönheit um sich herum ohne das überhaupt zu merken.

Lea knurrte leise.
Sie hasste es, wenn sie nachdenklich wurde. Dann fing sie an, über Sachen nachzudenken die sie in die hintersten Winkel ihres Bewusstseins geschoben hatte.
Mal ganz zu schweigen von der unerklärlichen Sehnsucht, vermischt mit Trauer und Einsamkeit, die sich in ihr ausbreitete und jeden Atemzug zu einer schmerzhaften Herausforderung werden ließ.

"Du denkst viel zu viel nach! Du musst dein Leben genießen, jeden Tag leben als wäre es dein letzter! Hör doch auf zu denken und lebe einfach!"

Lea zuckte heftig zusammen.
Sie biss die Zähne zusammen und schob mit eiserner Selbstkontrolle die Erinnerungen beiseite, Erinnerungen an eine Zeit in der sie noch gewagt hatte zu hoffen.
Hoffnung...Lea schnaubte verächtlich. Wie naiv sie doch gewesen war. Hoffnung war nur dazu bestimmt zerstört zu werden.

Blutgeruch reizte ihre feinen Sinne, zerstörte den Rest der friedlichen Atmosphäre.
In wenigen Sekunden war sie auf den Beinen und rannte dem Geruch entgegen.
Noch während sie lief wechselte sie ihre Gestalt.
Ihrer sowieso schon scharfen Wahrnehmung entging nun nichts mehr während sie der für sie fast schon sichtbaren Spur folgte. Nebenbei registrierte sie, wie zwei ebenfalls alarmierte Wölfe ihres Rudels ihr folgten.

Sie mussten nicht lange laufen.
Lea stoppte vor einem blutbesudelten Wolf, den sie sofort als einen der ihren erkannte.
Er war schwer verletzt, tiefe Krallenspuren zogen sich über seinen Körper, auch sein Gesicht wies tiefe Furchen auf und sein rechtes Ohr war komplett zerfetzt.
Als sie den Geruch des Angreifers an ihm wahrnahm, stellte sich ihr Nackenfell bedrohlich auf. Sie fletschte die Zähne, Wut stieg in ihr auf.

Wie konnte er es wagen!
Ein Mitglied ihres Rudels anzugreifen, ihn schwer zu verletzen und dann doch laufen zu lassen.
Alles nur, um sie zu provozieren, zu einem Kampf zu verleiten.
Dabei waren ihre Wunden noch nicht vollständig verheilt, sie hatte also einen gewaltigen Nachteil, sogar noch größer als sowieso schon.
Und er wusste das.
Doch das war ihr egal.
Sie konnte und wollte ihm das nicht durchgehen lassen.
Dieses Spiel würde er nicht spielen, nicht mit ihr.

Ich schwöre dir, das wirst du bereuen! Und wenn ich dabei draufgehe!

Lea legte ihren kopf in den Nacken und stieß ein einziges, lautes Heulen aus. Ein Zusammenruf, ein Schlachtruf mit einer einzigen Botschaft: Es wird Blut fließen.
Ihre beiden unverletzten Mitglieder stiegen direkt ein, die kaum verholene Aggressivität fächerte ihre eigene nur noch mehr an.
In der Ferne wurde das Heulen aufgenommen und weitergeleitet, wie ein Flächenbrand breitete sich die Nachricht aus.

Lea brach das Heulen ab und kurz darauf legte sich wieder Stille über den Wald.
Doch diesmal verströmte die Ruhe eine unterschwellige Anspannung.
Sie trat zu dem verletzten Wolf und leckte ihm kurz beruhigend über das unverletzte Ohr.
Er stieß ein helles Fiepsen aus und trottete dann davon, um sich auszuruhen.

Sie setzte sich abwartend hin.
Es dauerte nicht lange und das Rudel hatte sich um sie versammelt. Nachdem Lea ein paar ihrer Mitglieder ausgewählt hatte, damit sie zurückblieben und das Lager bewachten, rannte sie los.
Mit jedem Schritt stieg ihre Anspannung.
Hin und wieder hörte sie einen ihrer Wölfe leise knurren.

Ihre Wut war die Wut des Rudels.
Die Wut des Rudels war ihre Wut.

Als sie den Ort des Geschehens erreichten, kümmerte sie sich nicht um ihre Umgebug.
Sie stürzte sich auf den ersten feindlichen Wolf, ihr Rudel dicht hinter ihr.

Niemand griff ungeschoren ihre Familie an.


Wolfsblut *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt