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Ich konnte ihn nicht ansehen. Ich hätte so gerne gewusst, was er gerade dachte, aber ich schaffte es einfach nicht ihm jetzt direkt in die Augen zu sehen. Ich traute mich nicht. Ich wusste, dann würde ich zusammenbrechen.
Er überraschte uns alle indem er meine Tasche aufhob, die mir auf den Boden gefallen war.
Und sie sich über die Schulter hing.
"Prinz Cameron..." Plötzlich klang Mae wieder ganz lieblich, süß.
Cam Schnitt ihr das Wort ab. "Ehrlich gesagt", sagte er, sein Akzent dehnte die Worte lässig, sodass er völlig gelangweilt klang, "wundert es mich, dass die Marygold tatsächlich nach der Westenfield die zweitbeste Hochschule für reiche Kids von ganz England ist. Dem Niveau ihrer Schüler nach sollte das hier eher ein Kindergarten für Sonderbemittelte werden." Daraufhin packte er meinen Arm und zog mich aus dem Kreis, den die Schaulustigen um mich und Mae gebildet hatten. Niemand sagte etwas, niemand traute sich oder war zu perplex. Sogar Mae blieb stumm.
Und ich... Ich war völlig überfordert.
Nachdem wir um einige Ecken gegangen sind blieb Cam so abrupt stehen, dass ich praktischgegen seinen Rücken knallte. Sein Griff um meinen Arm verhinderte jedoch, dass ich stürzte - mal wieder.
Egal. Ich war schon emotional in den Abgrund gefallen. Was machte da schon ein weiterer Sturzflug aus.
Ich traute mich noch immer nicht Cam ins Gesicht zu sehen. Stattdessen starrte ich auf meine Füße, die in braunen Mokkassins steckten. Cam trug unter seiner schwarzen Uniformhose dunkle Chuks. Beinahe hätte mich das zum Lächeln gebracht.
Seine Hand legte sich unter mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. Ich blinzelte schnell und versuchte die Tränen zurückzudrängen. Sein Blick war fast zu intensiv.
"Alles okay bei dir? Du siehst ziemlich ... mitgenommen aus."
Ich schnaubte. Das war ja wohl untertrieben. "Klar, alles bestens." Ich riss mich von ihm los und trat einen Schritt zurück. Ich brauchte jetzt dringend Abstand.
Als ich wieder hoch blinzelte zuckte ein Muskel in Cams Kiefer. Seine Augen brannten sich in meine und ich schluckte schwer.
"Danke", flüsterte ich. Ich ließ die Schultern hängen und schaute wieder auf den Boden. Alle Kraft hatte mich verlassen.
Cam blieb stumm bis ich abermals zu ihm aufsah. Ich konnte die Regung in seinem Blick nicht deuten, ein kurzes Flackern, das viel zu schnell wieder erlosch.
"Nicht nötig." Seine Stimme war rau und tief, tiefer als normal schon. Dann räusperte er sich und wandte sich ab, drückte eine Tür auf über der das Zeichen für die Mädchentoilette hing.
"Äh, warte, Cameron. Du kannst da nicht rein!" Zu spät. Ihn schienen Anstandsregeln anscheinend überhaupt nicht zu interessieren, denn er marschierte einfach rein.
Ein Kreischen verriet mir, dass jemand gerade da drinnen war und den Cams plötzliches Auftauchen ziemlich erschreckt hatte.
Ich hörte, wie Cam ein knappes "Raus hier" knurrte und zwei Schülerinnen aus dem ersten Jahr eilten heraus. Sie rannten an mir vorbei und verschwanden um die Ecke. Dann erschien Cam, den ich mit hochgezogenen Brauen ansah. Er ignorierte meine stumme Frage und zerrte mich ins Mädchenklo.
"Was soll das?", wollte ich wissen.
Zu meinem Entsetzen zog Cam seinen Blazer aus und begann sein Hemd aufzuknöpfen. "Zieh dich aus!"
"W-was!?!?" War er bekloppt? "Nein!"
Er verdrehte nur die Augen und ließ sein Hemd von den Schultern gleiten.
Darunter trug er nichts. Da war nur Haut.
Nackte, braune, makellose Haut, die sich über beeindruckende Muskeln spannte.
Ach du Scheiße! Vor zwei Tagen war ich froh, wenn mich jemand freundlich anlächelte.
Und jetzt strippte der heißeste Prinz der Welt vor meinen Augen auf einer Mädchentoilette.
Mein Leben hatte wirklich eine drastische Veränderung durchgemacht!
Als Cam mir dann sein Hemd hin hielt war ich wirklich baff. Ich sah das Ding an, als wäre es ein undefinierbares Etwas aus einem fernen Planeten. Cams Mundwinkel begannen zu zucken.
"Nimm es. Deine Bluse ist komplett ruiniert und ich nehme an, dass du nicht nur im BH in den Unterricht gehen willst. Obwohl..." Er ließ das Hemd wieder sinken und grinste spitzbübisch. Plötzlich spürte ich ein ganz seltsames Kribbeln in der Magengegend - sicher nur Verdauungsstörungen. "DAS würde ich nur zu gerne sehen." Seine Augen funkelten wieder auf diese ganz besondere Art - der kaltschnäuzige Prinz von gestern schien verschwunden.
Ich ignorierte mein inneres Rumoren - ein unbekanntes aber auch nicht wirklich unangenehmes Gefühl - und riss ihm das Hemd aus der Hand.
Cams Lachen daraufhin fühlte sich warm auf meiner Haut an, wie Sonnenschein nach einem kurzen, aber heftigen Schneesturm. Und ich verstand, dass ich das jetzt brauchte - Freundlichkeit, Zuneigung. Jemanden, der mich tröstete.
Nun ja, ich würde mich nicht an Camerons Schulter aufheulen. Aber seine Gesten haben schon viel Schaden gemindert.
Aber nicht alles war okay. Das merkte ich an dem Zittern meiner Finger, an dem schnellen Klopfen meines Herzens, dem Brennen in meinen Augen.
Ich stürmte in eine der nun leeren Kabinen und schlug die Türe hinter mir zu, vielleicht mit etwas mehr Kraft als nötig. Mit zitternden Fingern knöpfte ich meine versaute Bluse auf, hörte aber auf als sich das Zittern meinen gesamten Körper erfasste. Es dauerte einen Moment bis ich Begriff, dass leise Schluchzer mich durchschüttelten. Hier, wo keine Blicke mich trafen, wo niemand mich sehen konnte, brachen meine Mauern zusammen.
Ich krümmte mich während ich einen Schrei in meiner Kehle erstickte. Kein Laut kam über meine Lippen. Darum erschrak ich umso mehr, als plötzlich Cams Stimme zu mir drang.
"Liv?"
Ich atmete tief ein und aus - einmal, zweimal, dreimal - bevor ich antwortete. "Bin gleich fertig." Ich hasste mich dafür, dass meine Stimme brach. Starr wartete ich, dass Cam etwas dazu sagte, doch von seiner Seite kam nichts.
Ich wischte mir die Tränen weg und beeilte mich, in Cams Hemd zu schlüpfen. Natürlich war es mir viel zu groß, reichte fast sogar bis zum Saum meines Rocks. Ich zog meinen Blazer drüber und schnappte mir meine Bluse. Noch einmal wischte ich mir über die Wangen, um sicher zu gehen, dass da keine Tränen mehr waren.
Dumm, dachte ich sofort, als ich die Kabinentür öffnete und mein Spiegelbild sah. Meine Augen waren blutunterlaufen, meine Wangen vom Weinen gerötet. Mein Zusammenbruch hatte vielleicht ein paar Sekunden gedauert, doch die Spuren waren deutlich zu sehen.
Ich wagte einen Blick zu Cam, der sich in der Zwischenzeit sein Jackett wieder überwworfen hatte. Seine Miene war wieder mal komplett ausdruckslos, so nichtssagend wie ein Stein. Seufzend sah ich mich nach etwas um, in das ich meine Bluse packen konnte. So verdreckt wie sie war wollte ich sie nicht einfach so in meine Tasche stopfen.
Cam bemerkte meinen Blick. "Was suchst du?" Seine Stimme klang belegt, rau.
"Etwas wo ich meine Bluse rein tun kann", erklärte ich ohne ihn anzusehen.
Ehe ich blinzeln konnte hatte er mir das Kleidungsstück entrissen, war in die Kabine marschiert, in der ich bis gerade noch war, und stopfte meine Bluse in den Mülleimer daneben.
"Hey!" Ich stapfte wütend mit dem Fuß auf. "Was zum Teufel soll das? Weißt du, wie viel dieses verdammte Stück Stoff gekostet hat?"
Es schien ihn natürlich kein bisschen zu kümmern. Stattdessen knurrte er etwas unverständliches, packte abermals meinen Arm und zerrte mich hinter sich her aus der Toilette und den Schulflur entlang. Meine Proteste ignorierte er geflissentlich und als ich versuchte, mich gegen seinen Griff zu stemmen, zog er mich einfach weiter.
Da reichte es mir. Ich hieb mit der flachen Hand gegen seinen Rücken - wenn auch nur mit halber Kraft. "Du Neandertaler!", schrie ich.
Da hielt er tatsächlich an.
Zu meinem Entsetzen aber nicht, um mich loszulassen.
Nee. Er bückte sich, fasste mich um die Taille und warf mich über die Schulter.

Wer will schon einen Prinzen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt