94

15.6K 736 17
                                    

Zuhause angekommen, hörte ich, wie im Wohnzimmer der Fernseher lief. 

Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, doch ich schluckte es runter und straffte den Rücken. Es würde schwer werden, meiner Mutter auf Dauer aus dem Weg zu gehen, also konnte ich mich auch gleich bemerkbar machen.

Ich ging den kurzen Flur runter und lehnte mich gegen den Türrahmen.

Meine Mum schaute wie gebannt auf den Bildschirm und schien gar nicht mitzubekommen, dass ich anwesend war.

Ich nutzte den Moment und betrachtete sie - das herzförmige, hübsche Gesicht, das sie selbst mit Ende Dreißig attraktiv aussehen ließ. Ihre geschwungene Nase, die an der Spitze leicht nach oben zeigte, so wie meine. Die runden braunen Augen, die meistens lachten und mich immer liebevoll und offen anschauten. Den vollen, geschwungenen Mund, von dem ich nie geglaubt hätte, er könnte mich je anlügen.

Der Stich, der mir ins Herz fuhr, war unbeschreibbar.

Ich räusperte mich. "Hey, Mum."

Sie erschrak so sehr, dass sie fast von der Couch aufsprang. Mit aufgerissenen Augen schaute sie zu mir, griff dann nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Dann erhob sie sich, wischte sich die Hände an der Hose ab und sah mich betreten und ängstlich an.

Als hätte ich sie bei etwas Verbotenem erwischt.

Ich zwang mich zu einem Lächelnd as mir nicht so recht gelingen wollte. Es war eine Sache, wenn ich mich mit meinen Freunden in Spekulationen verlor - etwas ganz anderes aber, wenn meine Mum sich dermaßen auffallend seltsam benahm, dass ich mich fragte, wie ich nie vorher darauf gekommen war, dass es etwas gab, das sie mir verheimlichte.

Mum hatte ein Geheimnis - und das stand wie ein Phantom zwischen uns. Nur ich war jahrelang so blöd gewesen, es nicht zu bemerken. 

"Liebling!" Ihr Lächeln wirkte ebenso gezwungen, wie meines. Schatten hatten ihre Augen verhangen, als sie den kleinen Raum durchquerte und mich in die Arme schloss. "Wie war dein Tag?"

Ich gab einen undefinierbaren Laut von mir, was alles möglich heißen konnte. Normalerweise hätte Mum mein Unbehagen sofort bemerkt und mich zur rede gestellt, doch das tat sie nicht. Stattdessen nickte sie nur, ließ mich los und ging Richtung Küche. "Ich habe Lasagne gemacht!", rief sie mir über die Schulter zu. "Hast du Hunger?"

Eigentlich sagte ich nie Nein zu Lasagne. Aber momentan fiel es mir schwer, den nötigen Appetit aufzubringen. der Gedanke, etwas in meinen Mund zu nehmen und runterzuschlucken, ließ mich fast würgen. "Nein", antwortete ich betont fröhlich. "Wir haben im Laden etwas gegessen!"

"Ist vielleicht besser. Sie ist mir nicht so gut gelungen." Sie lachte, doch es klang zittrig und nervös.

Warum sollte meine Mutter nervös sein? Meinetwegen? Der Gedanke ließ mir übel werden. 

"Ich ... ich geh hoch, Hausaufgaben machen", murmelte ich schließlich. Ohne auf eine Erwiderung zu warten, lief ich die Treppe nach oben und schloss die Türe hinter mir.

Ich lehnte mich gegen das glatte Holz und versuchte, tief durch zu atmen. 

Ich wusste beim besten Willen nicht, ob ich diese Geschichte noch lange aushielt.



Ich ging nie in der Woche aus, um zu sprayen. Aber ich hielt es an diesem Abend irgendwann nicht mehr aus - die Wände schienen mich zu erdrücken und ich brauchte frische Luft. Vielleicht hätte ich Blue oder Angel anrufen und fragen sollen, ob sie mit mir kommen wollten. Aber mir war danach, alleine loszuziehen und mir etwas Zeit für mich zu nehmen. 

Mit meinem Rucksack und dicker Regenjacke ausgestattet, rief ich meiner Mum aus der Diele zu, dass ich aus dem Haus war. ich war durch die Türe, bevor sie protestieren konnte. Dann beeilte ich mich, so viel Abstand wie möglich zwischen mir und unserem haus zu bringen.

So hätte es nicht sein sollen, dachte ich. Mein zuhause war für mich immer eine Zuflucht gewesen, der eine Ort, wo ich mich wohl fühlte und sein konnte, wer ich war, ohne fürchten zu müssen, verletzt zu werden.

Doch dieses Gefühl von Sicherheit war weg - das Unausgesprochene hatte sich in Schatten verwandelt, die in den Ecken lauerten, die Wände hinunter krochen und Worte flüsterten, die ich vernehmen aber nicht verstehen konnte.

Während ich durch den Regen lief, konnte ich die Tränen nicht zurück halten, die bereits seit dem Treffen mit Sanderson hinter meinen Augen gebrannt und gewartet hatten, auszubrechen.

Was Sanderson heute gesagt hatte konnte nicht stimmen. Es konnte nicht wahr sein, dachte ich verzweifelt. 

Denn wenn es wahr war, dann war die einzige Person, die ich liebte - die mir wichtig war, bei der ich mich geborgen und akzeptiert fühlte - nicht die, von der ich glaubte, dass sie es war.

Meine Mutter konnte doch nicht wirklich eine Fremde sein. 

Ich rutschte auf dem nassen Asphalt aus und schlug mit den Knien auf dem harten Boden auf. Ich schürfte mir die Handflächen auf, doch ich ignorierte das Brennen, rappelte mich wieder auf und rannte weiter.

Irgendwann fiel mir auf, dass ich ins nirgendwo lief. 

Und dann lief ich einfach weiter.



Ich fand eine einsame Ecke und schlüpfte in die Nische, wo ich vor dem Regen geschützt war, der nun mit aller Macht auf die Erde stürzte. 

Wasser perlte von meiner Jacke ab und tropfte vom Rand meiner Kapuze auf mein Gesicht. Meinen Rucksack hatte ich neben mich abgelegt - die Lust zum Sprayen war mir längst vergangen. 

Ich starrte in den Regen - mein Kopf fühlte sich leer und übervoll zugleich an. Mein herz und mein Magen schmerzten gleichermaßen und ich schlang die Arme eng um mich, versuchte, mit dem Druck das Stechen zu lindern.

Es half nichts. 

Irgendwann gab ich es auf, dagegen anzukämpfen, senkte den Kopf und ließ los.

Der Schmerz durchflutete mich, die ganze Angst, die Wut und Frustration, die bittere Verzweiflung, die immer größer zu werden schien, während die Tage vergingen und ich immer mehr das Gefühl bekam, meine Mutter am Ende zu verlieren.

Wenn die Wahrheit endlich aufgedeckt werden würde - was würde am Ende von mir übrig bleiben?

Von uns?

Ich vergrub das Gesicht in meinen Armen und weinte hemmungslos. 

Wer will schon einen Prinzen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt