Kapitel 1

201 22 44
                                    

Der Spätsommer mit all seiner Pracht, tut sich vor mir auf, als ich aus der Haustür trete und mich zu meinem klapprigen, roten Honda begebe.
Die Sonne erhebt sich wie ein golden glühender Ball am Horizont, die ersten Strahlen brechen sich in den Fensterscheiben der umliegenden Häuser und tauchen alles in warmes, gelbes Licht. Das Laub der Bäume und Sträucher ist tiefgrün und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr gelb-rotes Herbstgewand anlegen. Die letzten heißen Tage stehen uns bevor und obwohl es morgens noch kühl und leicht windig ist, werden wir noch einmal ordentlich schwitzen. Die Luft ist noch angenehm frisch und dennoch trägt sie die dumpfe Schwüle des sterbenden Sommers in sich. Für diese Woche sind Temperaturen um die 30 Grad gemeldet.
Nicht besonders motivierende Aussichten, wenn man bedenkt, dass die Sommerferien endgültig vorbei sind und die Schule nun wieder startet.

Ich hieve meine prall gefüllten, unförmigen Taschen in den Kofferraum und kann ein Ächzen dabei nicht unterdrücken. Warum muss ich eigentlich so viel mit mir rumschleppen? Heute ist mein erster Arbeitstag und der erste Schultag- unterrichten werde ich heute wohl kaum.
Ich ertappe mich dabei, wie ich zum hundertsten Mal nervös an meinem Kostüm herumzupfe. Vielleicht sollte ich doch etwas Bequemeres, weniger Förmliches tragen? Wirkt der ganze Aufzug nicht doch ein wenig zu steif? Ich schüttle leicht den Kopf und verwerfe den Gedanken wieder. Ein bisschen Seriosität kann nie schaden. Außerdem ist der Lehrerberuf einer dieser Berufe, bei dem es vorteilhaft ist, so alt wie möglich zu wirken. Mit meinen 28 Jahren bin ich in jedem Lehrerkollegium ein Baby und es ist mir nicht erst einmal passiert, dass man mich für eine Schülerin gehalten hat. Das ist also ein klares 'Ja' zum biederen Kostüm.

Ich schwinge mich in meinen Wagen und fahre die Fünfte Straße entlang, zunächst an schnuckeligen Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten vorbei, die nach einer Weile den hochgetürmten Betonglötzen mit den unzähligen Fensterreihen des Stadtrandes Platz machen, deren einzige Daseinsberechtigung darin besteht, so vielen Leuten wie möglich auf geringstem Raum ein Zuhause zu bieten. Die Umgebung wird mit jedem Meter ein wenig trister, die Anzeichen, dass man sich in einem sozial schwachen Teil der Stadt befindet, häufen sich. Kein Politiker macht sich die Mühe, hier noch etwas zu beschönigen. Diese Gegend wurde schon vor langer Zeit vergessen.
Ich fahre an einem Spielplatz vorbei, auf dem eine durchgesessene Schaukel im Wind hin und her schwingt. Die Farbe an den Spielgeräten blättert ab, überall sind rostige Stellen. Die Dominanz der Farbe Grau ist erdrückend, die einzigen Farbkleckse in dieser grauen Betonwüste sind liderliche Graffitis, die so ziemlich jede nutzbare Fläche zieren.
Ich würde mein Kind hier nicht spielen lassen, es sei denn, ich wöllte, dass es frühzeitig Depressionen bekommt.

Gelbe Schulbusse und schwatzende Gruppen von Jugendlichen, verraten mir, dass ich mein Ziel beinahe erreicht habe. Vor mir taucht ein kastenartiges Gebäude auf, welches offensichtlich noch nie viel hergemacht hat- und es auch jetzt nicht tut. Selbst die leuchtenden blau-orangen Banner, die rund um das Gebäude drapiert wurden, können nicht über den heruntergekommenen Eindruck hinwegtäuschen. Eine einladende Lernatmosphäre sieht anders aus.
Sehnsüchtig denke ich an die Martin Luther King High School zurück, an der ich die letzten zwei Jahre als Schwangerschaftsvertretung gearbeitet habe. Diese Schule hatte einen wunderschönen Schulhof, mit altem Baumbestand und war mit farbenfrohen Spielgeräten und von den Schülern hergestellten Kunstprojekten verziert... Dieser Schulhof hat damit ungefähr so viel gemein, wie ein Furzkonzert mit einer Sinfonie.

Das ist sie also. Die Boushall High School.
Ich parke meinen Honda und blicke auf das Gebäude und die Schülermengen, die sich durch das rostige Eisentor quetschen. Einige machen vor dem Tor einen Schlenker und verschwinden hinter einer Betonmauer, wahrscheinlich um noch schnell eine oder einen zu rauchen.

Nicht zum ersten Mal steigen leise Zweifel in mir auf. Die Boushall ist das, was viele als Brennpunktschule bezeichnen. Die Schüler hier kommen aus sozial schwachen und wie man so schön sagt, aus bildungsfernen, Familien. Die meisten sitzen hier in erster Linie ihre Schulpflicht ab und verlassen diese Einrichtung ohne einen Abschluss, das ist mir vollkommen klar, ich bin ja nicht naiv. Trotzdem bin ich freiwillig hier. Ich habe mich bewusst für diese Schule entschieden, auch wenn mir so ziemlich jeder davon abgeraten hat.

Wenn morgen die Welt unterginge...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt