Kapitel 28

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Rrrrrr.
Ich schrecke hoch und wäre um ein Haar von der Couch gerollt. Einen Moment lang irrt mein Blick orientierungslos hin und her, versucht, die ungewohnte Situation zu erfassen.
Dann fällt mir alles wieder ein.
Letzte Nacht...oh Gott. Eine Flut aus Emotionen überrollt mich regelrecht und irrational wie ich bin, schaue ich als erstes an mir herab.
Wenigstens bin ich nicht nackt, denke ich sarkastisch, aber auch ein wenig erleichtert.

Negan ist verschwunden - das ist das zweite, was ich feststelle. Dieses Mal ist das Ergebnis eher enttäuschend.
War er überhaupt hier?
Ja, ich bin mir ganz sicher. Warum sollte ich sonst auf der Couch übernachten? Außerdem rieche ich sein Aftershave, es umgibt mich wie eine zarte Wolke, verfliegt mit jeder Bewegung ein bisschen.
Am liebsten hätte ich mich nie mehr bewegt.

Ist er noch hier? Ich kann mich nicht erinnern, dass er gegangen ist. So ganz ohne sich zu verabschieden...
Ich lausche, aber es ist vollkommen still.
Außer...
Rrrrrr.
Dieses vermaledeite Handy!
Widerwillig stehe ich auf, was dazu führt, dass die Aftershave-Wolke vollends verfliegt.
Seufzend greife ich nach dem Telefon, das auf dem Couchtisch penetrant vor sich hin vibriert.
Ryan.
Schuldgefühle steigen in mir auf, dafür, dass ich mich schon wieder eine kleine Ewigkeit lang nicht bei ihm gemeldet habe, dafür, dass ich gerade eigentlich überhaupt keine Lust verspüre, mit ihm zu reden, dafür, dass die letzte Nacht bereits jetzt jegliche Zuneigung, jeden Anflug von liebeartigen Gefühlen, die ich für Ryan zu hegen glaubte, überdeckt oder vielleicht sogar verdrängt.

Schließlich siegt die Vernunft und ich nehme ab.
"Hey, schön von dir zuhören", flöte ich ins Telefon, bemüht, mir nichts anmerken zu lassen.
"Sorry, dass ich so früh anrufe!", tönt seine Stimme aus dem Hörer.
Sonst hat mein Herz spätestens da ein wenig an Tempo zugelegt, Wärme hat sich ausgebreitet, ein Lächeln ist über meine Lippen gewandert.
Jetzt...wird mein Herz eher schwer. Wie ein schwerer Stein, den man in den Brunnen plumsen lässt. Sinkt, wie meine Laune auch.
"Geht es dir gut?"
Diese aufrichtige, unbedeutende Frage, die so schwer zu beantworten ist.
"Klar", lüge ich, "Und dir?"

"Hmmm", brummt er, "Im Prinzip auch gut, aber ich lass' mal lieber gleich die Katze aus dem Sack: Es geht um deinen Geburtstag. Es tut mir leid, aber ich werde es nicht schaffen. Die verlangen jetzt für die Aus- und Einreise eine ärztliche Untersuchung, wegen diesem Virus. Und ich habe erst für Donnerstag einen Termin bekommen."
Müsste ich jetzt nicht traurig sein? Oder zumindest ein wenig enttäuscht? Aber nichts.
Eigentlich ist es mir ziemlich egal.
Mein Herz befindet sich noch immer im Sinkflug.
Wie tief ist dieser Brunnen eigentlich?
"Ist doch nicht schlimm, Hauptsache,  du kommst."
"Danke, tut mir wirklich leid", erwidert er erleichtert, "Gibt's bei dir was neues?"

Wieder so eine harmlose Frage, die sich als ein gigantischer Stolperstein entpuppt.
Überall Steine.
Ich tanze gerade auf einem riesigen Berg aus Geröll, immer kurz davor, die Balance zu verlieren.

Soll ich es ihm sagen?
Oder lieber das Gespräch in harmlose Bahnen lenken - vielleicht von der Theateraufführung erzählen?
Im Grunde geht es ihn ja nichts an. Andererseits war ich von Anfang an ehrlich zu ihm und wenn ich jetzt beginne, Dinge zu verheimlichen, dann bin ich auch nicht besser als... Negan.
Der Stein, auf dem ich gerade Halt zu finden glaubte, löst sich und stürzt donnernd hinab.

"Negan war letzte Nacht hier", sage ich also schließlich so beiläufig wie nur möglich. Mein Herz nimmt trotzdem an Fahrt auf, sinkt und schlägt, als befände es sich im Todeskampf. 
"Oh."
Meine Worte haben ihn getroffen, das hört man deutlich, auch wenn er nichts sagt.
Die Schuldgefühle wachsen noch weiter an, breiten sich aus wie ein Krebsgeschwür.
"Seine Frau hat wieder Krebs", füge ich erklärend hinzu, "Sie wird sterben und er hat jemanden gebraucht..."
"Ja, klar, verstehe ich. Wenn die eine schwächelt, kann man ja zu seiner anderen laufen"
Mir verschlägt es kurz die Sprache. So viel bitterbösen Zynismus hätte ich Ryan nicht zugetraut.

Wenn morgen die Welt unterginge...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt