Kapitel 23

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In den nächsten Tagen ist die Stille mein größter Feind und ich lasse nichts unversucht, um sie von mir fernzuhalten.
Alles, was ich tue, tue ich mit dröhnender Musik in den Ohren: Meine morgendlichen Joggingrunden, die ich jeden Tag ein Stückchen ausweite, das Arbeiten, Kochen, Backen, Putzen.
Das restliche Schulhalbjahr ist bereits durchgeplant und unsere Wohnung ist so sauber wie nie. Alles ist mir recht, solange es keinen Stillstand, kein an die Decke starren, keine Grübeleien gibt.
Die Abende verbringe ich meistens im Fitnessstudio. Nachdem ich einige Jahre ein inaktives Mitglied und das kleine Kärtchen eher ein Alibi war, habe ich meine Mitgliedschaft wieder aufleben lassen und mittlerweile kann ich mir gar nicht vorstellen, wie es war, bevor ich stundenlang auf Sandsäcke einprügeln konnte.
Auch was die Nächte angeht, war ich einfallsreich: Ich habe mir ein dämliches Computerspiel besorgt, bei dem ich stundenlang Welten und Dörfer bauen kann, das tue ich mittlerweile mit viel Perfektionismus und Akribie. Es hält wach oder macht so müde, dass mir im Sitzen die Augen zufallen. Beides ist gut.
Die Aktivität tut mir gut.
Sie verhindert, dass die Stille kommt.

"Du bist ja schon wieder stundenlang wach", höre ich Stefanie sagen, die mir die Kopfhörer von den Ohren gezogen hat.
Ich zucke zusammen, da ich sie nicht kommen gehört habe.
"Jep", rufe ich eine Spur zu fröhlich und rühre in der Schüssel, "Ich mach' dir Pancakes zum Frühstück."
In Wirklichkeit habe ich wieder so gut wie gar nicht geschlafen, aber das muss sie ja nicht wissen.
Stefanie mustert mich, während ich pfeifend den Teig in die Pfanne laufen lasse. Ihre Augenbrauen treffen sich beinahe in der Mitte, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie besorgt ist.
"Du meinst, du machst uns Pancakes.",  ermahnt sie mich und deckt den Tisch.

Als ich den Teller mit den Pancakes auf dem Tisch stelle, sieht sie mich noch immer so seltsam an. Sie holt tief Luft und scheint dann aber die Worte, die ihr auf der Zunge liegen, runterzuschlucken.
Demonstrativ packe ich mir einen Pancake auf den Teller, verteile großzügig Obst und Ahornsirup drauf und schiebe mir beherzt eine Ecke davon in den Mund.
Es schmeckt wie Pappe.
Wie papplige, nasse Watte.
Mühsam schlucke ich den Klumpen in meinem Mund runter und grinse dann tapfer.

"Hazel", meint Stefanie leise, "Bist du dir sicher bezüglich der Party heute Abend?"
"Ja, klar", beeile ich mich zu sagen, "Partys sind gerade genau das richtige für mich."
Steff mustert mich schon wieder so misstrauisch. Sie scheint erneut nach den richtigen Worten zu suchen. Das erlebt man bei ihr nicht so häufig.
"Ich meine ja nur, weil James da ist..."
Ich lehne mich nach vorne und nehme Steffs Gesicht in meine Hände.
"Quatsch! Ich freu mich für dich. Nur, weil sich Negan als verlogenes Oberarschloch entpuppt hat, heißt das nicht, dass du nicht glücklich sein darfst. Hör auf, dir Sorgen zu machen."
Sie seufzt und starrt auf den Pancake vor ihr.
"Es tut mir nur so weh, dich so zu sehen.", sagt sie leise.
"Steff", ich tätschle beruhigend ihre Hand, "Mir geht es wirklich gut. Du musst dir keine Sorgen machen."

Ich finde wirklich, dass ich gut mit dieser Trennung, die ja eigentlich gar keine war, umgehe. Nach Aarons Tod bin ich monatelang in eine Lethargie verfallen, hatte auf nichts Lust, habe den ganze Tag vor mich hingestarrt. Der Stille mit Aktivität entgegenzutreten, ist da viel effektiver und gesünder.
Negan verblasst mit jedem Tag ein Stückchen mehr. Bei Aaron hat das viel länger gedauert, natürlich, er war der erste, der mich wirklich geliebt hat, den ich wirklich geliebt habe.
Das mit Negan ist dagegen nur feuchter Kehricht. Was sind schon diese lächerlichen acht Wochen dagegen?

In Steffs Blick liegt tiefes Mitgefühl und Traurigkeit.
Da ist sie wieder, diese Stille. Sie kommt wie eine grollende Lawine auf mich zugerollt. 
Ich springe auf.
"Weißt du was? Ich hole jetzt erstmal die Pakete ab."
Bevor sie reagieren oder protestieren kann, bin ich schon zur Tür hinaus.

Spontan beschließe ich, gleich noch in die Stadt zu fahren und ein paar Dinge zu erledigen.
Auf dem Rückweg fahre ich an der Tankstelle vorbei, an der ich meinen Strafzettel bekommen habe.
Ich weiß nicht, was in diesem Moment in mir ausgelöst wird, warum ich anstatt nach links, nach rechts lenke.
Warum ich zu seinem Haus fahre.

Wenn morgen die Welt unterginge...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt