Kapitel 25

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Ich bin wieder auf dieser Klippe, blicke in den Abgrund, doch dieses Mal habe ich keine Angst. Dieses Mal machen die schroffen Felsen und die sanft kräuselnden Wellen dort unten einen friedlichen Eindruck.
Sehnsucht ergreift mich, die Sehnsucht mich fallen zu lassen, mich treiben zu lassen, loszulassen.
Und trotzdem kann ich nicht. Denn mein Verstand sagt mir, dass der Frieden da unten trügerisch ist.
Falls man an den tödlichen, spitzen Klippen, die wie Pfähle aus dem Wasser ragen, vorbei kommt, warten im Wasser Strömungen und Strudel, die man nicht sehen kann, die einen, gerät man hinein, erbarmungslos unter Wasser ziehen und binnen Sekunden ist man ertrunken.

"Ach, Hazel, warum tust du es nicht einfach?"

Ich zucke zusammen und fahre zu ihm herum.
Was tut er hier?
Das hier ist der Ort in meinen Träumen, an dem ich mich mit Aaron treffe, er war noch nie hier, er hat hier nichts zu suchen...
Er steht am Rand der Klippe und sieht mich herausfordernd an. So, als wäre nie etwas passiert, als hätte er mich nie belogen und verletzt.
Ich schlucke all die Vorwürfe runter und mache einen Schritt auf ihn zu.
Er kann mir hier nichts anhaben, es ist ein Traum.

"Warum lässt du dich nicht fallen, lässt es einfach zu? Warum stehst du dir immer selbst im Weg?"

Weil sonst Arschlöcher wie du kommen und mich zerfleischen, will ich schreien, aber ich bleibe stumm.

"Warum bist du so eine Heuchlerin,  Hazel?", fragt er leise, lauernd, und doch mit diesem nie verschwinden wollenden Lächeln auf den Lippen, "Hätte es, wenn du von meiner Frau gewusst hättest, etwas an deinen Gefühlen geändert? Hättest du dich dann nicht in mich verliebt, weil die Vernunft es dir verboten hätte?"

Er lacht und es ist ein hämisches Lachen. Aber auch ein trauriges. In seinen Augen sehe ich die Felsen und die Strudel, die da unten auf mich lauern. Und ich werde von ihnen angezogen, ich will mich in sie hinein stürzen und untergehen, versinken.
So ist es mit der Liebe.
Es ist immer ein Sprung, vorbei an schroffen Klippen, durch wirbelnde Strudel hindurch. Taucht man wieder auf, so ist es das großartigste, erhebendste Gefühl der Welt.
Doch wenn nicht... 

Jetzt kommt er auf mich zu und ich will ihn anschreien, ihm vorwerfen, dass er es darauf angelegt hat, obwohl er es besser wusste und mir keine Wahl gelassen hat.

"Ich weiß, du liebst deinen Verstand", sagt er zärtlich und streicht über meine Schläfe, "Er ist das einzige, worauf du dich immer verlassen konntest, nicht wahr? Der einzige, der dich nicht verletzt oder verlassen oder enttäuscht hat. Aber das hat dich vergessen lassen, dass es Dinge gibt, die weder vernünftig noch klug sind, die fernab von Verstand und Vernunft liegen und trotzdem richtig sind."

Ich beginne zu zittern, als seine Hände sich auf meine Wangen legen, seine dunklen Augen die meinen fixieren.
Wie sehr habe ich mich nach diesen Händen, nach diesen Augen, nach dieser rauen Stimme, gesehnt!
Es fühlt sich so echt an und doch weiß ich, dass ich träume, dass ich Negan nur noch in meinen Träumen so nah sein werde, da, wo meine Schuldgefühle und meine Vernunft nicht regieren.

Er schüttelt nachsichtig mit dem Kopf.
"Du brauchst ihn nicht mehr, du bist stark genug, Hazel, lass ihn einfach los. Sei frei. Spring. Fühle. Und du wirst sehen: Du wirst nicht fallen, sondern fliegen."
Und dann küsst er mich.

Ein vorwitziger Sonnenstrahl tanzt auf meiner Nase, ausgelassen, golden, sorglos. Warm kitzelt er mich und streichelt dann meine flatternden Augenlider.
In meinem Schädel rattern und brummen dagegen die Güterzüge und die Übelkeit pocht dumpf in meinem Magen. Mir steht also ein verkaterter, verschenkter Tag bevor. Schon wieder.
Selbst schuld.

Wenn morgen die Welt unterginge...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt