Kapitel 10

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"Also- Sie und Mr Walker?", begrüßt Tiffany mich und pflanzt sich auf das Lehrerpult. Ich schaue irritiert von den Unterlagen auf, die ich gerade sortiere, direkt in Tiffanys schwarz umrandete Augen, die mich erwartungsvoll anblicken.
"Äh...", mache ich tiefsinnig.
"Streiten Sie's nicht ab, Ms Manning, die ganze Schule weiß es.", pflichtet Scarlett ihrer Freundin bei. Mein Blick wandert zwischen den Mädchen hin und her. Was weiß die ganze Schule?
"Wir sind nur Kollegen.", erwidere ich dann so sachlich wie nur möglich.
Die gestern in eurem Turnhallenabstellraum gevögelt haben, füge ich gedanklich hinzu. Allein der Gedanke daran, lässt mein Herz Kapriolen schlagen und gleichzeitig meine Wangen vor Scham glühen. Schnell drehe ich mich zur Tafel und krakele den Aufzug und die Szene daran, mit der wir uns heute beschäftigen wollen.
"Das muss Ihnen doch nicht peinlich sein, Ms Manning.", versucht Scarlett mir beizuspringen, "Mr Walker ist so ziemlich der heißeste Lehrer, den ich kenne. Wäre er nicht so alt, würde ich ihn bangen."
"Scarlett!", rufe ich empört, doch sie kichert nur.
"Und wie Sie getanzt haben! Das war purer Sex...also, so...Sie wissen schon, im metastasischen Sinne..."
"Metaphorisch, Tiffany."
"Ja, mein ich doch. Hätten wir ein Ballkönigspaar gewählt, wären Sie's geworden."
"Definitiv!", stimmt Samantha ihr zu.
Ich seufze und schaue die schwärmenden Mädchen, die um mich kreisen wie Fliegen, kopfschüttelnd an.
"Hört ihr jetzt bitte auf und geht an eure Plätze?", flehe ich.
"Haben Sie eigentlich schon mit ihm ge..."
"Schluss jetzt! An. Eure. Plätze!"
Kichernd tuen sie endlich wie geheißen. Oh man, was habe ich mir da nur wieder eingebrockt? Und ich dachte, Jones und Boettger hätten sich zum Gespött gemacht. Da lag ich wohl falsch.
"Ms Manning?"
"Ja, Keve?", stöhne ich entnervt.
"Sie sehen süß aus, wenn Sie so rote Wangen kriegen."

Die ganze Stunde muss ich die zweideutigen oder auch ziemlich eindeutigen Bemerkungen der Schüler über mich ergehen lassen.  Dummerweise habe ich gerade für heute die fünfte Szene des dritten Aufzugs ausgewählt- eben jene Szene, die an eine gemeinsame Liebesnacht der Protagonisten anschließt und dementsprechend schwülstig daher kommt. Irgendwann beginnen diese Plagegeister sogar, Negans Stimmlage nachzuahmen, wenn Romeo spricht und meine bei Julia. Oder bilde ich mir das nur ein? Jedenfalls schwanke währenddessen ständig zwischen scheißewütend und tiefbeschämt hin und her. Erst als ich rigoros 6en verteile, kehrt halbwegs Ruhe ein. Im Eifer des Gefechts vergesse ich vollkommen, meine geplante Theater-AG zu erwähnen, erst als die Schüler aus dem Zimmer strömen, fällt mir das wieder ein.

Freistunde.
Ich kollabiere auf meinem Stuhl und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Augenblicklich zucken Bilder durch meinen Kopf. Bilder, die seit gestern Nachmittag meine Gedanken beherrschen. Die ganze Zeit schon kann ich nur daran denken, wie seine Lippen sich auf meinen angefühlt haben. Wie seine Hände, seine Fingerspitzen, mich berührt haben. Ich habe seinen Geruch wieder in der Nase, meine sogar zu spüren, wie sein Bart über meine Wange streicht, seine raue, tiefe Stimme in meinen Ohren zu hören. Hitze breitet sich in mir aus, gleichzeitig zieht sich eine Gänsehaut über meine Haut.
Oh Gott.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche, dieses Kopfkino abzustellen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Es ist, als hätte er vollkommen von mir Besitz ergriffen. Als wäre seine Präsenz bereits ein Teil von mir. Und gleichzeitig ist da diese Unsicherheit. Diese Unklarheit darüber, was er nun eigentlich für mich empfindet. Sie ist wie ein lauerndes Tierchen, das in einem dunklen Winkel meiner Seele hockt und zunehmend meine Gedanken vergiftet.
Letzten Freitag wollte er es langsam angehen- was auch immer das bedeuten sollte. Und gestern... Nach unserem Turnhallen-Intermezzo hat er mich nach Hause gefahren und obwohl er bester Stimmung war, war er auch wieder seltsam distanziert. Heute habe ich ihn noch nicht gesehen, da Steff mich zur Arbeit gebracht hat.
Es kommt mir vor, als würde er selbst mit sich ringen. Als wolle er selbst nicht tun, was er tut. Verheimlicht er was? Ist da etwas, was ich noch nicht weiß, was ihn zurückhält?
Ich habe keine Ahnung, was er will. Spielen?
Das war doch eigentlich Steffs Plan für mich. Leider bekomme ich immer mehr das Gefühl, als würde ich von der Spielerin zum Spielzeug werden.
Und das ist furchtbar dumm. Alles was ich hier tue, ist unvernünftig und gefährlich und dämlich.
Was hab ich nur getan? Was hat mich da nur geritten? Nun, wer ist klar.
Ich atme tief durch, streiche mir ein paar Haarsträhnen aus der Stirn.
Es gibt nur einen Weg, ein bisschen Ordnung in das tobende Gefühlschaos zu bringen. Ich packe meine Sachen zusammen und begebe mich zur Turnhalle.

Wenn morgen die Welt unterginge...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt