Kapitel 10

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Fünf Uhr. Noch dreissig Minuten. Ich bin sehr nervös. Leon wird in dreissig Minuten vor der Tür stehen.

Ganz Ruhig. Tief durchatmen. Er ist nur ein Mensch.

Er ist mein Freund. Mein Dad würde ihm am liebsten den Kopf abreissen und meine Mum, keine Ahnung.

Es ist trotzdem nur ein Junge, versucht  die Stimme mich zu beruhigen, was jedoch kläglich scheitert.

Nervös laufe ich in meinem Zimmer auf und ab. Mein Blick wandert wieder zur Uhr, die auf meinem Nachttisch steht. Noch fünfzehn Minuten. Meine Schritte hallen laut in meinen Ohren. Ich stelle mich nochmal vor den Spiegel um mein Aussehen zu kontrollieren.

"Wann kommt dein Freund nochmal?", ruft meine Mum von unten. Ich schreie zurück: "In etwa zehn Minuten!" Ich lege mich auf den Boden um noch irgendetwas zu tun.

Du machst genau gar nichts, bemerkt die Stimme

Doch, ich liege auf dem Boden, atme und warte auf Leon!

Doch, ich liege auf dem Boden, atme und warte auf Leon, äfft sie mich nach.

Ich strecke die Zunge raus und ziehe beleidigt eine Schnute.

Du kannst später beleidigt sein! Schau besser auf die Uhr!

Mein Blick haftet sich sofort auf den Wecker. Es ist zwei Minuten nach halb sechs. Wo bleibt er denn nur? "Hope, wo bleibt dein Freund?", ruft meine Mum. "Ich weiss nicht!" Ich rapple mich vom Boden auf und angle mein Handy vom Nachttisch. Nervös drücke ich auf den Homeknopf und das Display leuchtet auf. Keine Nachricht.

Er hat sich sicher nur verspätet, versucht die Stimme mich zu beruhigen.

Ich tigere durch das Zimmer und werde immer ungeduldiger. Mein Blick fällt wieder auf die Uhr. Sechs Uhr. "Er hat sich nur verspätet", rede ich mir ein. "Hope, wo ist er jetzt?" Meine Mutter ist in der Tür aufgetaucht. Ich zucke nur mit den Schultern und starre trübselig auf einen nicht erkennbaren Punkt. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich reagiere jedoch nicht darauf und starre immer noch Löcher in die Luft. "Kannst du mich bitte allein lassen?", murmle ich leise. Die Hand entfernt sich wieder und die Schritte meiner Mutter werden leiser, während sie die Treppe runtergeht.

Eine Träne rollt über meine Wange. "Er ist nicht gekommen. Er hat mich versetzt", murmle ich. Ich schliesse mein Handy an die Stereoanlage an und lasse mein Lieblingslied laufen. Eine weitere Träne hinterlässt eine feuchte Spur auf meiner Wange. Ich springe auf das Bett und verkrieche mich unter der Decke.

"Du hast bis jetzt noch nichts gesagt", meint Sky, die neben mir an die Buche gelehnt, auf das Ende der Pause wartet. Ich antworte ihr nicht, sondern hänge einfach meinen eigenen Gedanken nach. Leon. Wieso? Kurzerhand stosse ich mich von der Buche ab und gehe zurück zum Hauptplatz. Ich steuere auf die Gruppe der Jungs aus unserer Klasse zu. Sky rennt mir hinterher. Suchend gucke ich mich um. "Wo ist er?", murmle ich. Jan dreht sich zu mir um. "Wen suchst du?" "Meinen Freund!", antworte ich giftig. "Wow, komm mal wieder runter Hope!" Jan weicht erschrocken zurück und hebt seine Arme. "Ich soll runter kommen?", schimpfe ich. "Mach ich, sobald ich Leon gefunden habe!" "Er ist nicht hier", entgegnet Fabian. Überrascht schaue ich ihn an. Mein Mund öffnet sich, aber er schliesst sich wieder, ohne dass ein Wort heraus kommt. Sky zieht mich am Arm weg. "Was läuft mit dir?", keift sie mich an. "Er hat mich einfach versetzt!" "Was?" Traurig nicke ich mit dem Kopf. "Wieso sagst du mir das nicht? Du bist meine beste Freundin! Du hast mir zu erzählen, wenn etwas nicht stimmt!" Komischerweise finde ich den Boden plötzlich viel interessanter. "Ich werde diesen Jungen umgekehrt an einen Baum hängen, sobald ich ihn sehe", murmelt sie erbost. "Wehe!", zische ich zurück. "Da bahnt sich ein Streit an!", lacht Jessica. "Gar nicht wahr!", erwidern Sky und ich gleichzeitig.

"Wer's glaubt", murmelt sie nur und stolziert davon. "Diese Kuh", nuschelt Sky. "Da muss ich dir Recht geben."

Den restlichen Tag war ich eher in meinen Gedanken versunken und hab nur etwa die hälfte des Stoffes mitbekommen. Aber für mich gibt es im Moment etwas Wichtigeres als Schule. Ich muss die ganze Zeit über Leon nachdenken.

Er ist bestimmt nur krank.

Wenn er nur krank wäre, erwidere ich, hätte er mir geschrieben, dass er nicht zu mir kommen könne.

Gutes Argument...

Noch unglücklicher stehe ich auf und packe meine Sachen zusammen, nachdem es geklingelt hat. Ich folge Sky wie jeden Mittag zur Cafeteria. Schweigend reihte ich mich hinter ihr in die Essensausgabe und hole das Essen. Wir setzen uns an einen Tisch, der noch leer ist. Lustlos stochere ich in meinem Mittagessen umher. Kurzerhand stehe ich auf, packe meine Tasche und verlasse das Gebäude. Zielstrebig laufe ich zur Buche und klettere auf den Baum. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und wähle die Nummer von Leons Handy. Es klingelt einige Male, aber es nimmt niemand ab. Dieses Mal wähle ich die Nummer für den Festnetzanschluss bei Leon zu Hause. Nach dem zweiten Klingeln nimmt jemand ab. "Hallo?" "Hallo. Hier ist Hope", antworte ich. " "Oh Hope. Was kann ich für dich tun?", fragt Leons Mum. "Ist Leon da?" "Nein, er ist doch in der Schule?", fragte sie erschrocken. "Ähm, nein." "Er ist doch gestern zu dir gegangen?" Etwas traurig antworte ich: "Er wollte zu mir kommen, ist aber nicht aufgetaucht."

Ich höre leises Gemurmel und einige Schluchzer. "Hallo?", frage ich leise. "Wo ist er Hope?", zischt Stacie. "Ich weiss es nicht", stottere ich. "Wo ist er!", schreit sie dieses Mal. "Ich weiss es echt nicht", antworte ich etwas lauter. Stacie beginnt zu weinen.

Hast du super gemacht!

Danke, dass du mich aufmunterst, erwidere ich mit extra viel Ironie.

Immer wieder gern, grinst die Stimme.

Mich reist ein stetes Tönen aus den Gedanken. Stacie hat aufgelegt. Na super. Was soll ich jetzt machen? Leon ist verschwunden, seine Mutter hasst mich wahrscheinlich und ich sitze ohne einen Plan hier. Einige Blätter streifen mein Gesicht und ich schaue nach unten. Am Stamm angelehnt, steht Sky und blickt zu mir hinauf. Fragend schaue ich sie an. "Du hast mit Stacie telefoniert", stellt sie fest. "Na und?", frage ich angepisst zurück. "Nichts na und. Das war nur eine Feststellung." Sky klettert auch nach oben und setzt sich auf einen Ast, der etwas über mir ist. "Du weisst nicht was tun", stellt sie fest. "Woher willst du das Wissen?", entgegne ich. "Ich kenne dich gut genug Hope."

SkrixWo Geschichten leben. Entdecke jetzt