4. Falsche Freunde sind nur für den Übergang geeignet

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Am nächsten Morgen verlasse ich die Wohnung wie immer etwas später, als ich sollte und rufe meinen Eltern noch das gewohnte 'Bis heute Abend' zu, als ich die Tür hinter mir schließe. In dem selben Augenblick verlässt auch Tom die Wohnung.
"Wann bist'n wieder da?" hört man eine Stimme herausrufen.
"Heute Abend, denke ich." ruft er zurück, dann schließt er die Tür.
Ich beobachte ihn dabei und beginne zu grinsen, als er etwas zusammenzuckt, als er mich bemerkt.
"Morgen." begrüße ich ihn.
"Oh, hey morgen." begrüßt er mich.
Gemeinsam gehen wir zur Treppe und gehen sie im normalen Tempo nach unten, obwohl ich eigentlich eher rasen müsste.
"Du siehst echt gut aus." sage ich und schüttel sofort den Kopf und kneife die Augen für einen kurzen Moment zusammen.
"Also für so 'ne lange Nacht." füge ich dann schnell hinzu.
Das war auch, was ich eigentlich sagen wollte, aber ich vergess auch gerne mal die Hälfte meiner Sätze oder formulier sie so um, dass sie nicht so rüberkommen, wie es eigentlich geplant war. Keine gute Eigenschaft und diese Situation ist ein guter Beweis.
Tom beginnt zu lachen und bedankt sich dabei. Auf mein gewolltes, aber etwas anders gelaufenes Kompliment, geht er zum Glück nicht weiter ein. Das Einzige, was er noch meint ist, dass ich ebenfalls gut aussehen würde, denn meine Nacht war auch nicht gerade lang. Vielleicht hat er mich sogar wieder heimkommen gesehen.
"Die Party sollte eigentlich gar nicht so lang gehen. Wir sind auch echt froh, dass sich niemand beschwert hat." sagt er und kratzt sich etwas verlegen am Hinterkopf.
"Ach, keine Sorge. Hier interessiert sowas wirklich keinen. Es wohnen hier irgendwie nur Menschen, die in ihrem eigenen Mikrokosmos leben und nichts von draußen mitbekommen." beruhige ich ihn und springe die letzten beiden Stufen der zweiten Treppe nach unten.
"Naja, außer mein Dad. Der wollte euch mal ermahnen, aber meine Mom hat euch vor Möchtegern Hulk gerettet." sage ich lachend.
"Dann kannst du deiner Mom mal 'Danke' von mir sagen."
"Mach ich." gebe ich zurück und wir kommen zur letzten Treppe, die in die Lobby führt.
"Sag mal, du scheinst es mit den Avengers zu haben oder?" fragt er und beginnt leicht zu lachen.
Ich schüttel den Kopf.
"Eigentlich gar nicht, Spidey begleitet mich halt schon fast ungewollt seit meiner Kindheit, falls du das wegen gestern meinst und wegen meinem Dad... 'N besserer Vergleich fällt mir nicht ein. Vielleicht noch King Kong?" sage ich und lege überlegend eine Hand an mein Kinn.
"Außerdem ist Spidey doch gar kein Avenger oder?" frage ich dann, als wir in der Lobby ankommen und uns auf den Weg nach draußen machen.
"Najaaaa. Irgendwie nicht, aber irgendwie doch." sagt er dann und kratzt sich wieder am Hinterkopf.
Irgendwie wirkt er dadurch einfach nur unheimlich süß. Aber nicht in der Richtung, dass ich etwas von ihm möchte. Eher sympathisch und vielleicht sogar sympathisch genug, um 'ne kleine Freundschaft aufzubauen. Im Moment ist er vom Status so gut wie gar nichts. Wir sind Nachbarn und haben zwei Mal geredet, da könnte ich ihn vielleicht als Bekannten bezeichnen? Für mehr reicht es noch nicht.
"Ist ja auch egal." sage ich und halte die Tür auf.
Tom geht durch und ich sofort nach ihm.
"Ich hab eh nur die ersten Spider-Man Filme gesehen und den ersten Avengersteil. War nicht gerade meins. Helden sind es generell nicht." füge ich dann noch hinzu und setze zum Gehen an.
Tom ebenfalls, aber in die entgegengesetzte Richtung.
"Viel Spaß bei... was auch immer." rufe ich ihm über die Schulter zu und winke dabei.
"Viel Spaß in der Schule." ruft er zurück, bevor er über die Straße läuft.
Keine Ahnung, wo er hin möchte und es hat mich auch nicht zu interessieren, denke ich. Ich weiß ja nicht mal, ob es mich interessiert. Was andere so in ihrer Freizeit machen ist nicht mein Business und so behandel ich es auch. Es ist mir nicht komplett egal, aber ich denke auch nicht weiter darüber nach. Sollte ich es irgendwann erfahren, dann ist es gut, wenn nicht, dann eben nicht.
Ich widme mich meinem Weg und als ich um die nächste Ecke bin, hau ich mir an die Stirn und schüttel den Kopf.
"Du siehst echt gut aus...." wiederhole ich meine Worte, die ich im Flur rausgehauen habe.
"Was bin ich eigentlich..." murmel ich vor mich hin und entdecke dabei Verona, die schon an der Ecke auf mich wartet und wild winkt.
Sie wartet immer dort, obwohl das eigentlich ein riesen Umweg für sie ist und wir uns vor der Schule treffen könnten...
Könnten, gutes Stichwort, denn so einfach ist es ja nicht. Für mich wäre es das, aber für sie eher nicht.
Dort kann sie mich nicht treffen und mit mir reden, denn dort gibt es zu viel Aufmerksamkeit. Niemand soll sie mit mir sehen, außer es ist irgendwie unbedingt nötig. Ich bin gut, für 'nen guten Rat, um sich bei mir auszukotzen, um  bei mir Hausaufgaben abzuschreiben oder um die Themen der Arbeit noch mal zu wiederholen, obwohl der Lehrer sie 10 Mal wiederholte und jeder sie zum 10. Mal überhörte. Jane wird sie sich schon gemerkt haben.
Ja, für all das bin ich gut, aber das war's dann auch. Und das ist nicht mal das Schlimme an der ganze Sache, sondern, dass ich es mit mir machen lasse. Dabei weiß ich gar nicht, wieso...
Vielleicht, weil ich sonst ganz alleine wäre und das der einzige Weg ist, um überhaupt mit wem Kontakt zu haben?
"Na, du notorische Zuspätkommerin?" fragt sie mit ihrer Stimme, der jeder verfällt. 
Sie ist ruhig und hat etwas leicht rauchiges. Ihr Äußeres passt perfekt dazu mit den schwarzen, langen Haaren und der Schönheit, die leider nur zu 45% ihr gehört. Der Rest kommt von Produkten, die jedem zugänglich sind, wenn man das nötige Kleingeld hat.
Ohne wäre sie, meiner Meinung nach, immer noch schön genug für diese Welt, aber das will sie nie hören. In der Hinsicht habe ich einfach keine Ahnung, meint sie.
"Ich krieg's einfach nicht auf die Reihe." sage ich und wir machen uns ohne zu zögern auf den Weg zur Schule.
Besser gesagt, bis kurz vor die Schule, denn ab dort geht sie meist vor und ich trotte etwa drei Meter hinter ihr. Es klingt so bescheuert und das ist es auch, aber ich weiß mir anders nicht zu helfen. 
Verona ist kein schlechter Mensch und ohne sie und Phil hätte ich niemanden, für diese Zeit hier. Sie sind gut für den Übergang und ich muss das ja nicht allzu lange durchmachen. Meine Eltern sind bestimmt schon längst am planen, wo wir als nächstes ansässig werden.
Hoffe ich zumindest.
"Tut mir echt leid." füge ich dann noch eine knappe Entschuldigung hinzu.
Wäre Mary hier, hätte sie mich gerade geohrfeigt. Sie kennt meine "Freunde" und dass ich mich bei einer entschuldige, die nur mit mir redet, wenn sie sich sicher ist, dass keiner es mitbekommt, dass würde sie nicht zulassen. 
Verona zuckt nur mit den Schultern.
"Hat auch was Gutes. So müssen wir oft Mathe nicht ertragen. Wie zum Beispiel heute." sagt sie grinsend und nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee und hält mir auch einen hin.
Ja, ihr kommt es immer ganz recht, dass ich so oft zu spät komme. Nicht unbedingt wegen Mathe, so sehen uns einfach noch weniger Menschen, selbst vor der Schule, aber das sagt sie nie. Zumindest nicht offen zu mir, hinter meinem Rücken dagegen ständig.
"Den brauchst du, so wie du aussiehst,"
Ich nehme ihn dankend an und trinke ihn, als wäre es Wasser. Das kostet mich zwar meine Geschmacksnerven, aber das ist mir gerade egal. Mir war meine Müdigkeit gar nicht bewusst, doch nun, wo sie scheinbar meinen Zustand, den man mir scheinbar auch äußerlich ansehen kann, erwähnt hat, habe ich das Bedürfnis ständig zu gähnen.
Verona beobachtet mich etwas verdutzt, als ich mir den Kaffee so hinunterkippe.
"Warst du etwa ohne mich feiern?" fragt sie.
"Ne..." antworte ich knapp und ich spüre meine Zunge kaum mehr.
Die Hitze des Kaffees hat sie vollständig betäubt und ich bin selbst schuld.
"Es war zwar 'ne Party im Haus, aber ich war nicht da."
"In eurem Haus? Etwa Mary?" fragt sie etwas skeptisch.
Bei uns ist nie was los, außer, wenn eben Mary mal was veranstaltet, das weiß Verona, aber sie war es dieses Mal nicht. Sie war nicht mal Zuhause, glaube ich.
"Nope, Tom."
"Tom?"
"Ist so 'n Neuer." antworte ich knapp.
Viel mehr könnte ich tatsächlich auch gar nicht antworten. Ich weiß ja gar nicht mehr.
Als wir an einem weiteren geparkten Auto vorbeikommen, schau ich in dessen Seitenspiegel und ja, ich seh aus als wäre ich gestern feiern gewesen, wogegen Tom echt nicht so aussah. Und dabei hat er im Flur gesagt, dass ich auch "gut" aussehen würde. Diese typische Lüge... Das bekommt er zurück. 
Er ist neu? Mir egal, bei mir gibt es keinen Welpenschutz.
"Der kriegt was zu hören." murmel ich vor mich hin und werfe den Kaffeebecher in eine Mülltonne, an der wir vorbeikommen, bevor wir nach rechts abbiegen und in die Straße kommen, in der auch unsere Schule ist.
"Jane?" beginnt Verona und ich weiß genau, was sie fragen möchte.
Dieser Ton und der Blick dazu. Viel zu oft schon gesehen.
"Hausaufgaben?" frage ich.
Sie klimpert mit ihren künstlichen Wimpern und faltet bettelnd die Hände.
Mit rollenden Augen bleibe ich stehen und krame in meiner Umhängetasche, um die Aufgabenblätter für Englisch rauszusuchen. 
"Das schaffst du nicht mehr, aber nimm ruhig meine. Ich hatte bisher ja immer die Hausaufgaben, da gibt's noch keine Ärger." sage ich leicht genervt.
Es nervt mich, aber ich würde es niemals verweigern oder mich wehren. Wie gesagt, es ist ja nicht für lange. So meine Hoffnung.
"Du bist echt die Beste." 
Sie fällt mir um den Hals, gibt mir einen Kuss auf die Wange und nimmt dann die Blätter.
Auf dem Rest den Weges sieht sie sich alles genau an und beschleunigt dann ihren Schritt, denn die Schule kommt näher und somit wird unser Abstand größer.
"Wir sehen uns in Englisch." murmelt sie und verschwindet über den Hof zu ihrer Matheklasse.
"Wir sehen uns." murmel ich dann ebenfalls und gehe in das erste Gebäude.
Dort ist meine Klasse, mit der ich noch weniger zutun habe, als mit den anderen schon. Obwohl ich ein Teil davon sein soll und die Lehrer die Gemeinschaft so anpreisen. 
Größter Mist, den ich je gehört habe, denn hier herrscht das komplette Gegenteil und die Lehrer wollen es nicht sehen.
Als ich an meiner Klasse ankomme, klingelt es gerade und die ersten Stürmen heraus.
Mrs. Kruger sitzt am Pult und sortiert ein paar Unterlagen. 
"Ich frage mich, wie sie in der Berufswelt überleben möchten." murmelt sie deutlich, als ich in die Klasse komme und an meinen Platz gehe.
Mit ihrem typischen strengen Blick, den jeder, sogar manche Lehrer fürchtet, sieht sie mich über ihre Hornbrille an.
"Menschen die ständig zu spät kommen, sind kreativer, heißt es." gebe ich nur zurück.
"Die Kreativität brauchen sie auch, um ihr Leben auf die Reihe zu bekommen."
Sie steht auf und packt ihre Unterlagen in ihre Tasche. Danach kommt sie an meinen Tisch und ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel, dass sie mir schnell wieder meine Ruhe lässt.
Die Pausen sind die einzigen Momente, wo ich hier alleine bin und mich mal sammeln kann. Ich hasse es, wenn sie mir genommen werden. Vor allem durch solche Predigen.
"Sie denken, dass ich es böse meine, nicht?" fragt sie und setzt sich halb auf meine Bank.
Ich verschränke meine Arme vor der Brust und sehe sie mit etwa der gleichen Strenge an, wie sie mich. 
Mrs. Kruger beginnt leicht zu lachen und sieht aus dem Fenster.
Wenn sie lacht, ist sie fast noch unheimlicher.
"Jane, auch wenn du ein etwas unstrukturiertes Leben hast, durch deine Eltern und die Reisen und auch hier scheinbar keine Anschluss findest, brauchst du etwas, dass dir Halt gibt. Dann klappt es auch mit dem Pünktlich sein. Vertrau mir." sagt sie, lächelt mir kurz zu und geht dann zum Pult zurück, um ihre Sachen zu nehmen.
"Sport fällt heute übrigens aus, nicht das sie diese Enttäuschung von jemand anderes erfahren müssen." fügt sie noch hinzu, bevor sie den Klassenraum dann verlässt und mir meine Ruhepause gönnt.
Hörbar atme ich aus und gebe auch meine Abwehrhaltung auf.
Struktur hatte ich nie in meinem Leben und werde ich auch nicht besitzen, so lange ich bei meinen Eltern lebe. Vielleicht behalte ich das sogar bei, wenn ich alleine lebe, denn ich bin es ja nicht anders gewohnt. Auch wenn es natürlich schön wäre mal länger als ein oder zwei Jahre an einem Ort zu bleiben und Kontakte zu knüpfen, die über ein 'Wir kennen uns und ja, man könnte uns als Freunde bezeichnen' hinaus gehen.
Der einzige Halt, den ich hier habe ist mein universal Halt, meine Eltern und ein wenig Mary. Das war's. Ich hatte wirklich noch nie so wenig im Leben, wenn ich ehrlich bin.
Langsam wird es lauter und auch das Klingeln lässt nicht lange auf sich warten. Das Stimmengewirr kommt auf den Saal zu und ei paar der Verantwortlich betreten den Saal. Dabei sind Verona und Phil, die mich ansehen, aber nicht grüßen und ganz hinten Platz nehmen. 
Jeder Platz ist am Ende besetzt, außer der neben mir.
Nein, ich hatte noch nie so wenig.

Am liebsten trage ich das Lächeln, welches du mir gibstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt