10. Wenn man jemanden zwei Tage lang nicht sieht und dann vermisst...

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Zwischen Mary und mir ist alles wieder in Ordnung. Das Einzige, weswegen ich wieder einen Streit anfangen könnte ist ihre Sehnsucht nach einem Kerl, den sie für den Richtigen hält, obwohl sie ihn erst seit ein paar Tagen kennt. Zwei Tage weniger, als ich Tom kenne, aber er ist schon ihr ein und alles, während ich Tom immer noch nur als Bekannten bezeichne, obwohl er viel von mir weiß und ich irgendwie kaum was über ihn?
Bis jetzt sprach ich immer nur von mir... Als würde er mich nicht interessieren.
Wenn ich ehrlich bin, ist er eigentlich sogar der erste Mensch, an dem ich überhaupt echtes Interesse habe. Allein sein ständiges Unterwegssein interessiert mich wirklich.
"Wo sind die bloß?" fragt Mary zum bestimmt zehnten Mal und lässt den Kopf über der Armlehne der Couch nach unten hängen.
Ich sitze zusammengekauert auf dem Sessel und beachte sie gar nicht weiter.
Schon neun Mal habe ich ihr gesagt, dass ich es nicht weiß, es immer noch nicht weiß und es auch in den nächsten Stunden wohl nicht wissen werde. Sie fragt trotzdem weiter und weiter, wie ein Kind auf einer lange Fahrt immer wieder fragt wann man endlich da ist.
"Janeeee..."
"Mary, Klappe." murmel ich und nippe an meinem Bier und betrachte, wie der Himmel langsam orange wird.
Tom verschwand ja immer, das war komisch, aber nun gut. Sein Geheimnis. Jetzt sind jedoch alle Beide schon seit zwei Tage weg und ich frage mich wohin? 
Harry sagte Mary nur, dass es wegen der Arbeit sei, Tom sagte mir nichts, denn wir sahen uns nach dem gemeinsamen Morgen nicht mehr.
"Tom hat nichts erwähnt oder?"
"Hab ihn nicht mehr gesehen, nach... Also nach dem Treffen im Fahrstuhl."
Welches muss sie ja nicht wissen. Sonst würde alles wieder aufkommen und ich möchte das nicht durchkauen und mir Sachen wie 'Ach, deswegen warst du so gereizt.' oder 'Darum die Reaktion.' oder Ähnliches.
Und auch von dem wirklichen letzten Treffen nicht. 
So meint sie wohl das, wo ich ihm nur 'Hey, Tom." zurufen konnte. Reicht auch.
"Vermisst du ihn nicht?" fragt sie.
"Irgendwie, irgendwas, ja... Aber ihn? Weiß nicht." antworte ich und lüge damit nicht einmal.
Irgendwie vermisse ich irgendwas, aber wie und was, das weiß ich nicht. Hat vielleicht mit ihm zutun, vielleicht ist es aber auch nur Zufall, das es gerade dann kam, als er mit Harry verschwand.
"Ich habe es wohl nicht verdient, glücklich zu sein und geliebt zu werden. Ich bin immer nur ein Übergang bis jemand besseres kommt." sagt Mary und atmet schwer aus.
Von mir gibt's dafür nur ein genervtes Augenrollen.
"Geht's noch dramatischer? Harry meinte doch wegen der Arbeit, wie kommst du jetzt, dass er wegen 'ner Anderen abgehauen ist und wieso sollte dann Tom mit ihnen abgehauen sein?" frage ich und schüttel den Kopf.
Mary richtet sich auf und setzt sich in den Schneidersitz.
"Vielleicht sind die durchgebrannt."
"Hilfe..." rufe ich lachend und ich kann so schnell nicht mehr aufhören.
Sie lacht dagegen gar nicht, als würde sie es ernst meinen und DAS tatsächlich in Betracht ziehen.
Was Verzweiflung und Ungewissheit mit einem macht ist teils tragisch, teils aber auch unglaublich lustig, wenn man sowas hört. Zumindest für mich.
"Könnte das nicht sein?" fragt sie, als ich langsam wieder aufhöre und mein Bier weitertrinke.
"Klar, könnte alles sein, aber vertrau mir, die Beiden sind nicht durchgebrannt. Und ihnen ist auch nichts passiert und sie sind auch nicht auf der Flucht oder Entführt worden oder was da noch so in deinem blonden Köpfchen herumspukt." beruhige ich sie.
Mich auch ein wenig.
Wer weiß, was sie arbeiten, wenn sie so ein Geheimnis daraus machen und immer mal wieder verschwinden. Jetzt sogar beide und nicht nur für ein paar Stunden.
"Denkst du die drehn krumme Dinger?" fragt dann Mary, als könnte sie meine Gedanken lesen.
"Das einzige krumme Ding, was ich Tom zutraue und auch schon mitbekommen habe ist, dass er Alkohol besorgt, obwohl er noch keine 21 ist. Und da wir das auch machen, sollte uns das nicht abschrecken oder?" sage ich grinsend und stelle die leere Bierflasche auf den Tisch.
"Können wir jetzt auch mal wieder über was anderes reden? Bringt auch vielleicht mehr und dich auf andere Gedanken." schlage ich vor, auch wenn ich die Erfolsgchancen bei gerade mal 30% sehe.
Nach meiner Vermutung reden wir ungefähr 'ne viertel Stunde über was anderes, dann driftet Mary wieder ins melodramtische ab und es beginnt alles wieder von vorne. 
Vielleicht sollte ich ihr den Alkohol wegnehmen? Manche Menschen macht er ja ziemlich nachdenklich. Mich macht er einfach nur müde.
Sonst ist sie nämlich nicht so. 
Oder es ist das verliebt sein?
Deswegen lasse ich die Finger von sowas. So möchte ich nicht sein und auch niemals enden.
"Wie war die Schule?" fragt Mary dann und trifft damit noch ein Thema, welches ich gerne meide.
Nicht nur bei meinen Eltern.
Meine Eltern kann ich nämlich meist noch mit einem 'Wie immer' abspeisen, aber Mary nicht. Sie versteht besser, was das heißt und akzeptiert sowas nicht. Solch eine Antwort ist für die Eltern da, nicht für Freunde und Ähnliches.
"Verona und Phil waren heute nicht da, kein Lehrer hat mir 'nen Vortrag gehalten und ansonsten hat mich jeder, wie üblich ignoriert. Ach und ich kam zu spät, aber das ist nichts neues." antworte ich ihr zusammengefasst.
"Und wir müssen für die Theater Ag etwas aufführen. Ich muss das üben, aber mit wem denn?" füge ich dann noch hinzu.
Eigentlich weiß ich schon, wen Mary vorschlägt, deswegen wollte ich es gar nicht erwähnen, aber manchmal ist mein Mund viel zu schnell und versteht nicht, dass er nicht alles aussprechen muss, was da oben so abgeht.
"Ich wüsste da wen. Aber du kannst auch mit mir üben, wenn du magst." sagt sie ohne komisches Grinsen oder unterschwelligem Ton in der Stimme.
"Lieb gemeint, aber die Szene bekämen wir niemals zusammen hin. Wir würden die ganze Zeit nur lachen." sage ich.
"Uuuuh, was romantisches? Dramatisches? Liebesdrama?" fragt sie aufgeregt und wippt hin und her.
Ich nicke.
"Jane, ich liebe dich. Aber...wir können nicht zusammen sein. Mein Vater darf es nicht erfahren." beginnt sie mit Mimik, Gestik und Tonfall, der mehr als übertrieben ist. 
Skeptisch sehe ich sie an, denn dieser Anfall ist mir nicht geheuer.
"Nein, sie mich nicht so an. Es geht einfach nicht." sagt sie, dreht den Kopf zur Seite und streckt mir ihre Handfläche entgegen.
Mein Blick verändert sich nicht, ich finde es immer noch gruselig und hoffe, dass es vorbei ist.
"War das gut?" fragt sie und gibt ihre Pose auf.
"Was zum Teufel war das?" frage ich.
Immer noch etwas zu entsetzt, um darüber zu lachen.
"Ja, vielleicht wollten die mich deshalb nie in der AG. Sie meinten, dramatisieren wäre gut, aber nicht, wenn ich es tun würde." sagt sie nachdenklich und rollt mit den Augen hin und her.
Tut mir leid, Mary, aber da muss ich ihnen recht geben.
"Du solltest den Alkohol aufgeben." sage ich und will ihre Flasche vom Tisch nehmen, doch sie ist schneller.
Das ist sie auch bei Essen. Da kennt sie nichts.
"Niemals!" sagt sie und trinkt den Rest auf Ex.
So viel war es auch nicht mehr.
Dann stellt sie sie wieder auf den Tisch und legt sich dann auf die Couch. Ein Kissen legt sie sich auf den Bauch und knuddelt es. Ich hab kein Kissen zum Knuddeln. Nur meine Knie, die langsam wegen meiner Sitzposition schmerzen. Auch meine Füße fangen an einzuschlafen.
"Hab ich dir eigentlich jemals erzählt, dass ich gar keinen Vater mehr habe?" murmelt sie vor sich hin und erst denke ich, dass sie einfach nur irgendwas vor sich hingemurmelt habe, realsiere dann aber, was.
Ich sehe zu ihr rüber und beobachte sie, wie sie in den Himmel starrt und somit in den mittlerweile dunkelblauen Abendhimmel.
"Wir lebten erst in Queens, dann ist meine Mutter gestorben. Mein Vater hat diese Stadt immer mit ihr verbunden. Jeden Fleck an dem sie waren konnte er nicht mehr sehen, also zogen wir um. Los Angeles. Gott, wie habe ich diese Stadt gehasst. Nur, weil mein Vater weit weg von Queens wollte." beginnt sie mit einer Ruhe, die mich beruhigt, obwohl es um ein Thema geht, was mich normalerweis ziemlich aufwühlt.
Der Tod von Menschen ist ein Thema, was viel schlimmer ist, als ihre Sehnsucht nach einem Kerl oder Schule. Viel schlimmer, als alle Themen, die ich gerne meide zusammen.
Ich möchte nicht daran denken, wie es ist jemanden zu verlieren, den man liebt. Wenn schon das denken an sowas so wehtut, dann kann das Erleiden eines solchen Verlustes einen nur töten.
Vielleicht lacht Mary deswegen so häufig? Ist deswegen so positiv?
Alles nur Fassade, um niemandem zeigen zu müssen, dass es innerlich ziemlich tot ist?
"Und wie kam's dass du jetzt hier lebst?" frage ich.
"Mein Dad starb kurz nach unserem Umzug dorthin. So hatte ich nur noch meine Tante Elenora in Atlanta. Ich bin hierher gezogen, kurz bevor ihr kamt. Sie wohnt neben dem Cafè in das wir immer gehen." sagt sie und sieht sie zu mir.
"Ich weiß, was du in mir siehst. Das, was alle sehen. Aber nur weil ich mein Päckchen in glitzerndes Papier verpackt habe, heißt es nicht, dass es leichter zu tragen ist." sagt sie und lächelt.
Dann sieht sie wieder in den Himmel und drückt das Kissen fester an sich.
Vielleicht um so gegen Tränen anzukämpfen?
Nach passenden Worten suchend, sehe ich zu Boden, doch ich finde nur ein "Das tut mir leid."
"Als wäre es deine Schuld... Du hast ihn nicht über den Haufen gefahren oder? Und meiner Mutter hast du doch auch kein Krebs geschenkt oder?" fragt sie und krampft sich nur noch mehr ins Kissen.
Ich erwarte, dass sie gleich weint oder schreit. Ich würde sie deswegen nicht mal für verrückt halten. Es wäre ziemlich normal sowas zutun, aber sie tötet lieber still das Kissen mit den Nägeln und sieht starr in den Himmel.
"Nein..." antworte ich, obwohl das nötig wäre. 
Es ist ja klar, dass ich es nicht war. Und trotzdem antworte ich auf die Fragen, die rhetorisch gemeint waren.
Danach herrscht Stille. Hier oben herrscht, sofern niemand redet oder keine Sirene ertönt immer Stille. Man hört keine Autos, man hört keine Stimmen, der Menschen in den Straßen. Man hört nur seine Gedanken. Man hört sich selbst. Und oft viel zu viel davon.

Am liebsten trage ich das Lächeln, welches du mir gibstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt