Ich - Und der Rest der Welt

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Ich war kein normaler Teenager. Nie. Während andere in meinem Alter auf Partys gingen und jede Menge Alkohol tranken, saß ich bei meinen Eltern zu Hause auf der Couch und sah eine Liebesschnulze. Obwohl man es mir nicht direkt ansah, war ich ein unheimlich schüchterner und ängstlicher Mensch. Aber wer erwartet das schon von einem groß gewachsenen, gut genährten Mädchen das sehr selbstsicher wirkt? Niemand. Jeder der mich das erste Mal sah dachte ich wäre mutig und stark. Aber das war ich nie. Ich schnappte mir lieber mein Handy und ein gutes Buch anstatt mit den anderen feiern zu gehen. Mit anderen Worten: ich war eine graue Maus. Ich hatte mehr Spaß daran Musik zu hören und zu lesen anstatt mich bis zum Verlust der Muttersprache zu betrinken. Einst sagte mir sogar meine Mutter das sie mich zu langweilig fände. Keine Partys, kein Alkohol, keine Jungs. Welcher normale Teenager verzichtet freiwillig auf all diese Sachen!? Niemand außer ich. Ich weis nicht warum aber ein gutes Buch interessierte mich mehr als irgendwelche betrunkenen Typen auf einer Party die zu eskalieren drohte. Während andere Mädchen kurz vor einer Abtreibung standen, hatte ich nur die romantische Vorstellung eines festen Freundes. Geschweige denn konnte ich von Sex nur träumen. Welcher Teenager findet Liebesgedichte toll und interessiert sich für einen der größten Dichter über haupt wie Lord Byron? Viele Menschen mochten mich daher nicht. Diese Menschen können froh sein das sie mich noch nie Abends erlebt hatten. Abends war ich ein wandelndes Buch. Ich redete wie ein Wasserfall ohne Punkt und Komma. Aber am lustigsten finde ich mich wenn ich im Bett bin. Ich sitze aufrecht im Bett und höre die geilste Partymuke ever. Und obwohl ich wie gesagt im Bett bin feiere ich so richtig ab. Ich tanze, ich singe, bin verrückt. Wie jeder Jugendliche. Nur halt nicht bei einem dieser Festivals wo alle Schweißgebadet in kleinen Zelten nebem dem Dixiklo schlafen. Nein. Ich tat es zu Hause. Im warmen weichen Bett. Wenn mich dabei jemand gesehen hätte, würde ich jetzt in einer Einzelzelle in einer geschlossenen Psychiatrie leben. Andere in meinem Alter brauchten Alkohol oder irgendwelche Drogen um richtig abgehen zu können. Mir jedoch hätte ein Mix der aktuellen und älteren Charts gereicht und ich wäre vollkommen ausgeflippt. Die Musik war meine persönliche Droge. Wie jeder gute Junkie konnte ich nicht ohne meine geliebte Droge leben. Ich könnte zu jeder Tages und Nachtzeit Musik hören. Ohne Musik wäre ich wahrscheinlich schon längst von der nächst besten Autobahnbrücke gesprungen. Irgendetwas gab mir die Musik das mir Menschen nicht geben konnten. Halt. Kraft. Ermutigung. Liebe. Von allen Seiten meiner Umgebung fühlte ich mich ungeliebt. Wahrscheinlich hat alles damit angefangen das mich mein Erzeuger nie haben wollte. Damals als er sich von meiner Mutter trennte war ich gerade einmal ein Jahr alt. Ich wuchs also ohne einen Vater auf. Er hatte nicht einmal um das Sorgerecht für mich gekämpft. Ein Zeichen für mich das ich ihm egal war. Er wollte mich einfach nicht. Nie. Früher hatte ich nicht begriffen das mir etwas fehlte. Doch in der Pubertät wird es einem bewusst. Wenn du dich mit deiner Mutter wegen banalen Dingen streitest. Andere Kinder konnten zu ihrem Vater gehen und sich dort ausweinen. Ich konnte es nicht. Ich konnte es bei niemanden. Ich musste die Dinge die mir Probleme bereiteten selbst hinunter schlucken. Klar könnte man jetzt sagen "geh doch damit zu deiner Mutter". Ja sowas sagt sich leichter als es ist. Meine Mutter hatte andere Ansichtsweisen als andere Mütter. Gaanz andere. Erzählte ich von einem Streit zwischen Freundinnen und mir, sagte sie keine Aufmunternden Dinge. Weit gefehlt. Sie sagte das das von den betreffenden Mädchen schon die Mütter einen an der Waffel hatten. Oder zum Thema Liebeskummer. Andere Mütter würden es merken wenn es ihrem Kind schlecht geht. Doch nicht meine Mutter. Entweder war sie jeden Tag zu müde, oder sie war wirklich blind. Sie sah nicht das ich oft niedergeschlagen war. Ein Anzeichen dafür das mich etwas bedrückt ist, wenn ich nichts rede. Ich selbst würde mich als redefreudig bezeichnen. Es war eine Herausforderung für andere Menschen mich sprachlos zu bekommen. Wer es schaffte, strich es sich im Kalender an weil es ein besonderes Ereigniss war. Doch wenn ich wirklich gar nichts von mir gab beschäftigte mich etwas. Es beschäftigte mich so sehr das mir nicht einmal irgendwelche Worte einfielen. Nein, was ich eigentlich sagen wollte ich bekam nur sehr wenig liebe von meinen Mitmenschen. Schon im Kindergarten musste ich erfahren was es heißt allein zu sein. Während andere Kinder in Gruppen Fangen oder Verstecken spielten, saß ich mutterseelenallein im Sandkasten und spielte so vor mich hin. In der Grundschule wurde es noch schlimmer. Meine Lehrerin war bestechlich und gab nur den Schülern gute Noten wo die Eltern in jeder Sprechstunde saßen. Obwohl ich mich nicht als faul bezeichnen kann waren meine Noten immer schlechter als die der anderen Kinder die wohl gemerkt viel schlechter lasen oder rechneten als ich. In den Pausen saß ich alleine auf der kalten Steintreppe und sah den anderen dabei zu wie sie spielten. Im Kindergarten gab es wenigsten noch den Sandkasten. Doch hier in der Schule gab es nur die Mitschüler. Jene Mitschüler die mich wegen meiner Figur nur beschimpfen oder nicht mitspielen ließen. Im Nachhinein kann ich diagnostizieren das ich als Kind definitiv Depressionen gehabt haben muss. Der einzige Lichtblick den ich in den unteren Jahrgangsstufen hatte, war Michael. Ich kannte ihn seid wir beide ein Jahr alt waren. Wir kamen in die selbe Klasse und spielten miteinander. Im Sommer fand man mich so gut wie immer bei ihm auf dem Hof. Seine Familie betrieb früher eine Landwirtschaft und für uns war es eine Freude im alten Heustadl verstecken zu spielen. Jedes mal wenn ich nach Hause kam war ich total verdreckt weil wir im Maisfeld oder zwischen dem aufgeschichteten Holz gespielt hatten. Meistens spielten wir Mutter - Vater - Kind wie jedes Kind in unserem Alter. Damals fand ich es komisch das ein Junge eine Puppe besaß doch Michael war über haupt anders als alle anderen Jungen. Der dünne Junge mit Brille auf der Nase liebte es mit Puppen zu spielen anstatt sich auf dem Fußballplatz im Dreck zu wälzen. Diese Tatsachen kamen mir sehr gelegen da ich selbst auch Fußball verabscheute und lieber mit Puppen spielte. Das Highlight war allerdings sein Kettkar. Es war ein roter Kettkar mit einem zweiten Sitz. Wenn uns langweilig war fuhren wir einfach gemeinsam durchs Dorf. Ich liebte es hinten drauf zu sitzen und die Dorflandschaft zu bestaunen. Ich fühlte mich wie eine Königin die durch ihr Land fuhr und bestaunt wurde. Doch das alles hat sich seid dem Schulwechsel in die 5. Klasse verändert. Nun waren meine Lehrer nicht mehr gekauft sondern nett und freundlich. Egal zu welchem Kind. Ganz gleich ob die Eltern in die Sprechstunden kamen oder nicht. Mich packte der Ehrgeiz und ich pauckte das mir oft das Hirn rauchte. Ganz abgesehen von meinen schulischen Noten war mein sozialleben einfach nur grausam. Eine neue Ära der Demütigung fing an. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir ein unheimlich eingebildetes Mädchen in der Klasse. Ihr Name war Julia. Ich tat mich ohnehin schon schwer neue Freunde zu finden doch Julia brachte das Fass zum über laufen. Sie erfand die sogenannte "Grütze". Man konnte die Grütze nur bekommen wenn man jemanden anfasste und loswerden indem man sie an jemand anderen abschmierte und sich impfte. Natürlich war ich das begehrteste Opfer. Jeder impfte sich gegen meine vermeintlich giftige DNA. Gott sei dank verging das Horrojahr schnell und Julia offenbarte uns das sie die Schule verlassen würde. Die 6. Klasse war meine Lieblinsklasse. Ich war so gut wie noch nie zuvor. Ich habe meine neue Lehrerin abgöttisch geliebt und auch wahsinnig viel gelernt. Auch gesellschaftlich erlang ich einen enormen Aufstieg. Da Julia jetzt weg war, waren die anderen auch netter zu mir und fanden heraus das ich gar nicht giftig war. Das Jahr verflog und wir bekamen erneut eine andere Lehrerin. Sie sollte sich als meine absolute Lieblingslehrerin herausstellen. Vielleicht habe ich sie so gern gemocht da sie weniger Lehrerin für mich war. Nein eher wie eine große Schwester. Eine Schwester die ich nie hatte aber immer wollte. Mit ihr konnte man einfach über ALLES reden. Ich fühlte mich besser den je! Schule toll! Noten toll! Freunde toll! Mein Leben war perfekt. Bis zu dem Tag an dem unsere Abschlussfeier sein sollte. Es war der Tag an dem ich meiner "Schwester" lebe wohl sagen musste. Als es schlussendlich so weit war bekam ich keinen Ton heraus da mein Gesicht mit Tränen überströmt war. Noch heute muss ich sehr oft an die schöne Zeit denken und des öfteren sogar weinen da ich die Zeit so sehr vermisse. Wir bekamen als Geschenk eine Karte. Eine Karte, in der unsere Lehrerin uns sagte was sie an uns mochte und vermissen würde. Jedes mal wenn es mir schlecht geht hole ich die Karte hervor und lese sie durch. Meistens kann ich nach dem ersten Satz vor lauter Tränen nichts mehr lesen. Aber ich weis sie mochte mich genauso gerne wie ich sie. Das gibt mir jedes mal Kraft und Halt. Doch irgendwo zwischen dem scheinbar perfekten Leben und das Lesen der Karte war mein Leben einen Abhang gerutscht. Mittlerweile bezeichnete ich mich selbst als ein Seelenwrack.

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