Kapitel 32

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Bis jetzt hatte ich nie gewusst, wie es sich anfühlte jemand wichtigen in seinem Leben zu begraben. Bis jetzt hatte ich bloß Mitleid und Bedauern mit denjenigen, die es durchmachen mussten. Und ich bewunderte diejenigen, die danach weiter machten und wieder zu ihren Leben zurückkehrten. Sogar jetzt galt ihnen meine Bewunderung, denn ich fühlte mich vollkommen anders. Ich fühlte mich ausgelaugt, erschöpft und leer. Beinahe über ein Jahrzehnt gehörte Nick zu meinem Leben und nun war er weg. Einfach so. Und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
In den vergangenen Tagen hatte ich kaum geschlafen. Immer wieder sah ich vor meinen Augen, wie Nick von dieser Brücke gesprungen war. Der Brücke, die sonst so viele schöne Erinnerungen hergegeben hatte. Nun wusste ich, dass ich diese nie wieder betreten könnte, ohne an diesen schrecklichen Moment zu denken.
Jeder von uns war mit einer dicken Trauer umhüllt. Niemand von uns hatte bis viel geredet. Stattdessen waren wir alle in unseren eigenen Gedanken. Jedenfalls war ich es und bemerkte wahrscheinlich auch nichts mehr, was um mich herum wirklich geschah.
Die Zwillinge hatten sich zurückgezogen, während Kaden mehr Zeit mit Kayla verbrachte als üblich. In diesen Tagen verstand ich, dass zwischen den beiden mehr war, als nur bloße Freundschaft. Ich hatte endlich eingesehen, dass die beiden mehr füreinander empfanden. Sehr viel mehr.
Mir hingegen konnte niemand helfen. Nicht meine beste Freundin und auch nicht mein eigener Bruder, der es irgendwann aufgegeben hatte etwas zu versuchen, um mich zum Sprechen zu bewegen. Nicht einmal Damien konnte mir irgendeinen Trost spenden. Niemand konnte das. So viel Schmerz und Trauer auf einmal hatte ich noch nie verspürt. Es erdrückte mich förmlich.. Presste mir die Luft aus der Lunge. Ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder zu Atem kommen konnte. Ich wusste gar nichts mehr. 

Nun stand ich da, in einem schwarzen Kleid, während ich auf den glänzend braunen Sarg starrte. Schwere und schwarze Wolken hingen über uns und es sah so aus als würde es gleich wie aus Eimern schütten. Das Wetter passte perfekt zu der erdrückenden Stimmung, die um uns herum herrschte.
Mittlerweile hatte ich keine Tränen mehr, die ich vergießen konnte, denn ich hatte sie bereits alle ausgeweint. Nun war da nichts mehr, bis auf die Leere, die sich in mir ausgebreitet hatte.
Alle waren da, um sich von ihm zu verabschieden. Mika hielt die Hand seiner Schwester ganz fest umklammert. Kaden hielt meine beste Freundin fest im Arm, um sie vor einem Zusammenbruch zu bewahren. Sogar Nicks Arbeitskollegen und andere seiner Freunde waren da, um sich ein letztes mal von ihm zu verabschieden. Ich bemerkte, dass Nick viel mehr Freunde hatte, als eigentlich vermutet. Aber überrascht war ich davon nicht. Jeder liebte ihn. Man konnte ihn einfach nicht hassen. Nick war der liebenswerteste Mann, denn ich je gekannt hatte.
Einzig und allein ich hielt mich etwas mehr im Hintergrund. Der gewisse Abstand zum Sarg bewahrte mich davor nicht vollkommen auseinanderzubrechen.
Immer wieder spürte ich den Blick meines Bruders auf mir, der vermutlich wissen wollte, ob es mir noch gut ging und ob ich es weiterhin durchhielt. Ich sah ihn nicht an.. Ich sah keinen der Anwesenden an, ohne mich zu verraten. Meine gesamte Konzentration galt meinem Gemütszustand, den ich unbedingt aufrechterhalten musste. Vielleicht hätte mich in diesen Augenblick nur ein einziger Mann zusammenhalten können, sodass ich nicht meine letzten und übriggebliebenen Kräfte benutzen müsste. Doch es war gerade dieser Mann, der unter allen anderen nicht dabei war. Und ich verstand es einfach nicht. Nick war auch sein Freund gewesen. Doch er hatte nicht den Mut aufbringen können, sich von ihm zu verabschieden. 

Die ersten Tropfen fielen, als sie begonnen hatten den Sarg in dieses dunkle Loch hinabzulassen. Mit jeden Zentimeter, entfernte sich Nick immer weiter von mir. Der Mann, der mich in vielerlei Hinsicht getröstet hatte. Der mir beistand, als ich wieder einmal einen Streit mit meiner Mutter hatte oder ich mich manchmal mit der Arbeit überfordert fühlte. Dieser Mann war nun nicht mehr bei mir. Ich könnte ihn nie wieder anrufen, ihn nie wieder besuchen, mit ihm lachen, die Abende durchzocken, oder mit ihm in irgendeiner Bar ein Bier trinken können. Nun wurde er zu einer Erinnerung. Eine Erinnerung, die irgendwann auch noch verblassen würde. Ich wusste, dass ich schon bald seine Stimme endgültig vergessen würde, seinen Duft, seine liebevollen Umarmungen. Und hätte ich nicht die Fotos oder die ganzen Aufnahmen von uns, hätte ich irgendwann wahrscheinlich auch noch sein Gesicht vergessen. Doch solange es noch nicht geschehen war, würde ich diese gebliebenen Erinnerungen mit größter Vorsicht behandeln. In diesen Augenblick, waren sie mein wichtigster Schatz, den niemand bekommen durfte. Diese Erinnerungen waren für mich wichtiger, als so vieles in meinem Leben.

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