Kapitel 6: Neue Kraft

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Ori

Mein Vater erwartet mich in meinem Zelt. Was will der denn hier? ,,Du bist meine Tochter und du hast dich gefälligst auch so zu benehmen! Du bist eine Schande für unsere Familie." ,,Was meinst du damit?", gebe ich verwirrt zurück. ,,Du bringst mich zu oft in peinliche Situationen. Kümmert es dich denn gar nicht, dass wir die Generalsfamilie sind?" ,,Du kümmerst dich ja auch nicht um mich!", entgegne ich trotzig. ,,Nie lobst du mich oder hast auch nur ein nettes Wort für mich übrig. Immer muss ich die perfekte Generalstochter sein. Das hängt mir einfach zum Hals raus. Ich habe es satt immer Befehlen zu folgen. Ich kann das nicht mehr." ,,Dein Bruder ist viel geeigneter für meine Nachfolge, vor allem da ich jetzt weiß, wer du wirklich bist." Mit diesen Worten verlässt mein Vater das Zelt.

Mein Bruder?! Ich versteh die Welt nicht mehr. Na gut, Vater mag mich nicht besonders, aber mein Bruder? Der ist ja zu überhaupt nichts nutze. Das einzige, was er kann, ist sich einschleimen und Frauen aufreißen. Bäh. Nicht mal ein Schwert kann er in die Hand nehmen. Und der soll General werden? Das ich nicht lache! Oh und fast hätte ich es vergessen, er kann sehr gut ERPRESSEN!

Und was meint er damit, "vor allem da ich jetzt weiß, wer du wirklich bist!"? Er weiß doch nicht... Nein! Das kann nicht sein! Wie...?
Ich bringe ihn um! Das wird er bitter bereuen.

Wütend stampfe ich auf. Die Blumenvase auf dem Tisch sticht mir ins Auge. Mit einem lauten Klirren zerspringt die blaue Vase in tausende Scherben. Mein BRUDER! Grrrr! Der Spiegel folgt der Vase. Ich zucke zusammen. Eine Scherbe bohrt sich in meine Fessel. Der ganze Boden ist mit Scherben bedeckt. Ohne Rücksicht trampele ich durch den Scherbensee. Unwillkürlich ziehe ich vor Schmerz die Luft durch die Zähne. Ein weiterer Glassplitter steckt in der empfindlichen Haut unten bei den Hufen.

Ich will zum Zelt meines Bruders eilen. Doch mit demolierten Beinen funktioniert das nicht so gut. Ich fokusiere all meine Wut und meinen Hass auf den kleinen Gauner. Fast bin ich bei ihm angekommen.

Ich weiß nicht, was die Wendung verursacht, aber meine Schuldgefühle kommen an die Oberfläche. Jahrelang habe ich sie ganz tief hinten in meinem Kopf vergraben. Mein Bruder hat das Thema wieder aufgefrischt. Die Wunde, die schon fast wieder heil war, ist wieder aufgerissen. All diese Schmerzen kommen wieder hoch. Mit jeder Sekunde werden die Schuldgefühle stärker.

Entschlossen richte ich mich auf. Es muss heute ein Ende haben. Der Hass brennt wie Feuer in mir. Doch dieses mal richtet er sich nicht gegen meinen Bruder. Zögernd drehe ich mich um.

Humpelnd erreiche ich den Bach. Langsam steige ich in das kalte Wasser. Ich bleibe so lange stehen, bis ich nichts mehr spüre. Ich spüre den Schmerz in den Beinen nicht mehr. Ich spüre generell meine Beine nicht mehr. Aber vor allem vergesse ich meine Schuldgefühle und den Selbsthass. Der einzige Gedanke der mir bleibt, ist: Leg dich hin und schlaf ein. Das tue ich auch. Ich lege mich in den eiskalten Bach und warte bis ich einschlafe. Es wird ja niemand ein Ungeheuer vermissen. Ich zittere am ganzen Körper. Vater hat ja eigentlich Recht mit seinen ganzen Schimpftiraden. Ich bin eine Schande. Eine Schande für meine Familie. Eine Schande für meine Mutter. Meine Mutter! Eine einzelne Träne löst sich aus meinen Augen. Langsam wischt meine eiskalte Hand die Träne weg. Sie wird nie wieder bei mir sein. Ein Schluchzer entweicht meiner Lunge. Es ist meine Schuld! Mein Körper bebt. Nicht mehr vor Kälte. Nein. Ich weinte und weinte. Meine Schuld! Meine... Ich schrie laut auf. Ich schrie meinen ganzen Schmerz und Hass heraus. Ich kann nicht mehr! Ich kann.... nicht.... mehr! Ich zittere am ganzen Körper. Mir ist eiskalt. Keine einzige Träne rollt die Wange hinunter. Ich habe mich ausgeweint. Aber wenn ich noch weinen könnte, würden die Tränen sofort gefrieren. Endlich frei. Dann schließe ich die Augen.

Für Immer VereintWo Geschichten leben. Entdecke jetzt