Kapitel 12: Kindheitsgeschichten

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Ori

Ich starre das Medaillon schon seit einiger Zeit an. Ich liege einfach im Schatten der Bäume, abseits der anderen und starre IHR Medaillon an. Während ich das Schmuckstück betrachte, kommen die Gefühle hoch, die ich so lange einfach verdrängt habe. Trauer schnürt mir den Hals zu.

Nie wieder werde ich in ihre sanftmütigen Augen blicken. Nie wieder werde ich ihr freundliches Lächeln sehen. Nie wieder wird sie mich in ihre Arme nehmen. Nie wieder wird sie mich trösten. Nie wieder werde ich ihre liebliche Stimme hören.

Eine Träne rollt meine Wange hinab. Ärgerlich wische ich sie weg. Doch es kommen immer mehr nach, bis ich heule wie ein kleines Baby. Ich darf nicht weinen! Was würden die anderen denken? Doch der Tränenfluss lässt sich nicht stoppen. Ich darf keine Schwäche zeigen! Nie durfte ich schwach sein. Außer bei IHR! Nun sind meine Tränen wirklich nicht mehr aufzuhalten. Ich heule Rotz und Wasser.

Sie wird nie mehr bei mir sein! Und das ist meine Schuld! Wäre ich daheim geblieben. Wäre ich nicht weggelaufen. Wäre ich nicht gewesen, würde sie heute noch da sein! Mein ganzer Körper bebt. Meine Schultern zucken, als ich lautlos schluchze. Immer mehr Tränen kommen nach. Alles meine Schuld! Meine Schuld! Meine...

Ein lautes Krachen gefolgt von einem ebenso lautem "Aua!" unterbricht mich in meinem Selbstmitleid. Was hat die jetzt schon wieder angestellt! Wahrscheinlich ist Tummy auf der Suche nach Blaubeeren oder sonstigen Nahrungsmittel gestolpert.

Dabei muss ich wieder an sie denken. Wir sind, als ich klein war, immer Blaubeeren suchen gegangen. Einmal bin ich in ein Dornengebüsch gestolpert. Danach hat sie mir ein Lied vor gesungen und währenddessen hat sie mich von den Stacheln befreit. Ein trauriges Lächeln erscheint bei dieser Erinnerung auf meinen Lippen.

Nie wieder wird sie mir etwas vorsingen.

Nie wieder wird sie mich ins Bett bringen.

Nie wieder wird sie mir die Haare bürsten.

Nie wieder wird sie mich in die Arme nehmen.

Nie wieder wird sie mir einen Kuchen backen.

Nie wieder werden wir gemeinsam laufen können.

Nie wieder werde ich ihr schönes Lachen hören.

Nie wieder...

Leise Huftritte lassen mich aufblicken. Tummy kommt zögernd auf mich zu. Was will die jetzt schon wieder! Sieht sie nicht, dass ich alleine sein will? ,,Lass mich in Ruhe!", grummele ich. Doch die Faunin kommt immer noch näher. Ich setze so gut wie möglich einen neutralen Gesichtsausdruck auf. Hoffentlich hat sie nicht bemerkt, dass ich geheult habe. Sicher wird sie es wissen. So wie ich sie kenne hat sie mir nachspioniert.

,,Ohh! Du armes Ding! Du hast meine elegante Vorwärtsrolle nicht gesehen."

Langsam hebe ich eine Augenbraue. Was ist denn mit der passiert?

,,Wie machst du das..." Tummy fuchtelt mit ihren Händen vor ihrem Gesicht herum. Verwirrt hebe ich meine zweite Augenbraue. ,,Genau das!" Verständnislos starre ich sie an. ,,Na, das mit deinen Augenbrauen!" Genervt von meinem Unverständnis rollt sie mit ihren Augen. Eigentlich müsste ich diejenige sein, die genervt ist.

,,Was tust du hier?", knurre ich. Dann lässt die nervige kleine Faunin einen Schwall sinnloser Wörter aus ihrem frechen Mund kommen. Ich verstehe nur einige Wörter, ohne Zusammenhang. Wörter wie, Baum, Gazelle, schleichen, Busch, Rolle, Halbgazelle, elegant, innere Stimme, verliebt, ohnmächtig und traurig. Ich starre Tummy verständnislos an. Hat sie sich verwandelt und kann deswegen nicht mehr sprechen? Lange Zeit blicke ich dieser verrückten Person in die Augen. Tummy starrt zurück.

Für Immer VereintWo Geschichten leben. Entdecke jetzt