Kapitel 27: Das Opfer

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Und da sehe ich ihn. Noch ängstlicher, noch kleiner, noch geduckter, noch zitternder, noch verzweifelter und noch trauriger, als am Vortag. Aslan. Aslan, der prachtvolle Löwe. Aslan, der immer Ruhe ausstrahlt. Aslan, der alle mit einem Brüllen verbeugen lässt. Dieser Aslan, dieser Aslan, der da in den Wald hineingeht, erkenne ich nicht wieder. So ziemlich das Gegenteil. Und das lässt mich traurig werden. Eine Träne kullert meine Wange hinunter, und ich sehe, dass ich nicht die einzige bin. Nur der Anblick von diesem armen Löwen lässt Tränen vergießen. Kraftlos schleicht Aslan neben den Bäumen. Man hat das Gefühl, dass er bei jedem Schritt, den er macht, noch schwacher und niedergeschlagener wird. Sein Schwanz schleift unglücklich am Boden.

Leise zeige ich Susan und Lucy ein Zeichen, dass wir Aslan folgen. Mit einem tapferen Nicken stimmen die Menschenkinder zu. Vorsichtig und darauf bedacht keinen Lärm zu machen, schleiche ich los. Hinein in den Wald. Hinter Aslan. Immer wieder verstecken wir uns hinter einem dicken Baum, um nicht entdeckt zu werden. Im Wald ist es ganz schön gruselig. Das Dunkle birgt viele unheimliche Schatten mit sich. Der Wind pfeift und lässt die Blätter rascheln. Eulenrufe ertönen. Doch wir kehren nicht zurück. Ich bin wenigstens froh, dass es nicht still ist. Totenstill. Das wäre noch schlimmer, als alles Gruselige zusammen. Mittlerweile schaue ich nicht mehr auf Aslan, sondern Susan hält meine Hand und gibt die Richtung vor. Meine Aufgabe besteht nur nicht hinzufallen. Was schon schwer genug ist. Warum ich nicht auf Aslan schaue? Weil mein Herz zum Bluten beginnen würde. Und das hält mein Herz nicht aus. Mich fröstelt es. Es hat sich schon eine Gänsehaut auf meinen Armen gebildet. Um mich zu wärmen, reibe ich die Hände schnell gegeneinander. So schnell, sodass es durch die Reibung Wärme erzeugt. Physik.

Plötzlich bleibt Aslan stehen. Langsam dreht er seinen schweren Kopf in unsere Richtung. ,,Solltet ihr nicht schon längst im Bett sein?" Seine Stimme! Seine Stimme ist so anders. Noch intensiver als am vorigen Tag. ,,Ich konnte nicht schlafen, wegen der Zucchini. Dann habe ich einen Schatten bemerkt und dachte, es wäre eine Zombiezucchini. Ich hatte Angst, deswegen habe ich Suse und Lucy aufgeweckt. Bitte, Aslan! Bitte, lass uns dich begleiten!" Seine Augen setzen meinem Herzen einen Stich. ,,Es wäre schön ein bisschen Gesellschaft zu haben!"

Mit diesen Worten gehen wir los. Gemeinsam mit Aslan. Lucy auf der rechten Seite, die Hand in der Mähne fest gekrallt. Susan hält die Hand ihrer Schwester und ich schlendere auf der linken Seite vom Löwen. Meine Hand ist genauso, wie die von Lucy, in der Mähne vergraben. Ich wuschle durch die verfilzten Haare. Bei meiner Berührung zuckt Aslan die rundlichen Ohren. Ich spüre, wie er sich ein wenig entspannt. Mit meinen Fingern entknote ich ein paar Strähnen. Als mein Bereich der Mähne nicht mehr verfilzt ist, kralle ich mich einfach nur fest. Will niemals mehr los lassen. Ich kralle mich fest, als ob mein Leben am Spiel stehe. Ich weiß nicht, ob es Aslan weh tut, denn er widerspricht nicht. Wir gehen alle nur schweigend. Niemand traut sich etwas zu sagen. Nicht einmal meine innere Stimme. Niemand weiß, was man in so einer düsteren Situation sagen soll. Nicht einmal ich, mit meinen vorlauten Sprüche. Diesmal hat es mir die Sprache verschlagen. Wortwörtlich. Ich meine, was soll man bitte in so einer Stille sagen? Vielleicht: Wie geht es dir so, Aslan? Oder ein brummendes: Was für eine düstere Nacht. Sollte man vielleicht sagen: Hört ihr das? Das war eine Steineule. So etwas kann man einfach nicht sagen. Nicht jetzt. Nicht, wenn Aslan so drauf ist. Nicht, wenn jetzt bald das Schlimme passiert.

Schon wieder bleibt Aslan stehen. ,,Es ist so weit! Von hier aus muss ich alleine weiter gehen." ,,Aber Aslan! Wir...", weiter kommt Susan nicht, denn der Löwe dreht sich fast ein bisschen energisch zu uns um: ,,Ihr müsst mir vertrauen! Denn das hier muss geschehen!"

So etwas ähnlichen hat er mir gestern auch gesagt. Er erklärte mir: ,,Weißt du, Tummy, die Zeit ist so ein Ding. Nach einer gewissen Zeit passiert alles und man kann der tickenden Uhr nicht entfliehen. Und jetzt ist gerade die Zeit, wo etwas Schlimmes passieren wird! Man kann es nicht aufhalten, egal was man tut, die Uhr tickt einfach weiter. Was geschehen muss, muss geschehen" Genau das hat er zu mir gesagt. Und wie es scheint, ist es nun an der Zeit "Leb wohl" zu sagen. Mit großen Augen, in denen sich schon die nächsten Tränen bilden, schaue ich ihn an. Er erwidert meinen Augenkontakt. Jetzt spüre ich etwas anderes in diesen Augen. Etwas größeres als die Angst. Die Liebe.

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