Wörter: 2458
---------------------------------
„Ich kann nicht glauben, dass du es geschafft hast, mich zu überreden." Die Worte kamen mit einem Seufzer über meine Lippen und klangen deshalb nicht ansatzweise so anklagend wie beabsichtigt. Fahrig fuhr ich mir durch die blonden Locken und zerstörte damit Rosas ganze Mühe. Doch das interessierte mich im Moment nur wenig.
So war es auch ein Leichtes dem entsetzten Blick meiner besten Freundin keine große Beachtung zu schenken. Diese seufzte, anscheinend hatte sie endlich begriffen, dass bei mir Hopfen und Malz verloren war.
„Du wirst mir noch danken, Alice! Ich bin schon gespannt auf die ganzen Gesichter, wenn sie dich sehen. Wetten, dass dich keiner erkennt?" Rosa nahm ihren weinroten Trenchcoat vom Haken, schlüpfte hinein und verließ gemeinsam mit mir das Haus. Sie und ihr Mann Marc nannten dieses erst seit einigen Monaten ihr eigenen, schienen sich aber bereits bestens eingelebt zu haben.
„Ich wette nicht", erwiderte ich kurz angebunden. Da das kleine Gasthaus, in dem das Klassentreffen stattfinden würde, keine zehn Minuten entfernt war, machten wir uns zu Fuß auf den Weg dorthin. Die frische Abendluft würde uns gut tun.
„Warum nicht?" Rosa schob die Unterlippe vor, wie sie es zu unseren Schulzeiten oft getan hatte, und entlockte mir damit ein Schmunzeln.
„Du hast gesagt, mich wird keiner erkennen. Du scheinst jedoch vergessen zu haben, wer alles kommt", half ich ihr leicht auf die Sprünge. Es wäre recht witzlos, ihr zu offenbaren, warum ich mir so sicher war, die Wette zu gewinnen.
Rosa hatte jedenfalls recht. Dass mich einer unserer alten Klassenkameraden erkennen würde, hielt ich für unwahrscheinlich. Darüber machte ich mir aber keine großen Gedanken. Meine Gedanken galten den einzigen Personen, die in der Lage waren, mich zuerkennen. Zwar kannten sie mein jetziges Ich, aber dieses auch noch mit meinem alten Ich in Verbindung zu bringen, hatten sie noch nicht geschafft.
Ich hatte ein ganzes Jahr Zeit gehabt, mich davon zu überzeugen. Ebenso lange hatte ich die Scharade aufrecht erhalten können. Heute allerdings würde sie ein Ende finden. Meine Laune sank mit jedem weiteren Gedanken an den kommenden Abend.„Erde an Alice!" Rosa stieß mich leicht in die Seite. Anscheinend hatte sie etwas gesagt und ich hatte es nicht mitbekommen.
„Denkst du an deine Kleinen?" Ihre braunen Augen musterten mich eindringlich.„Ich mag es nicht, sie über Nacht alleine zu lassen", griff ich nach dem Strohhalm, den sie mir entgegenhielt. An meine zwei kleine Unruhestifter hatte ich nicht gedacht, zumindest nicht vorhin. Es bereitete mir allerdings tatsächlich etwas Sorgen, nicht bei ihnen zu sein. Es hätte mich ungemein beruhigt, wenn Henri bei ihnen gewesen wäre.
„Keine Sorge, Ali. Deine Mutter ist immerhin bei ihnen und notfalls sieht Marc nach ihnen."
Ich sah meine Freundin dankbar an, verfluchte sie aber im selben Moment, da ich meine Gedanken nur schwer von meinen Kleinen wieder wegbekam.
Fünf Minuten und etliche aufmunternden Worte meiner besten Freundin später hatten wir das kleine Gasthaus erreicht. Vor fast genau zehn Jahren hatten wir dort auch unseren Abschluss gefeiert. Und ich den Entschluss gefasst, mein Leben endlich in die Hände zu nehmen.
„Ali?"
Rosa hielt mir die Tür mit einem angedeutetem Grinsen auf und bedeutete mir hineinzugehen. Kopfschüttelnd tat ich ihr den Gefallen und hörte kurz darauf die massive Tür hinter uns ins Schloss fallen. Vor uns beiden breitete sich eine kleine Eingangshalle aus. Rechts von uns entdeckte ich die Garderobe sowie ein Schild zu den Toiletten, links befand sich ein Empfangstresen, an dem ein junger Mann mit dunkelbraunem Haar saß. Als er aufsah und uns beide bzw. Rosa erblickte, gingen seine Mundwinkel in Sekundenbruchteilen sofort nach oben. Obwohl er wie wir alle älter geworden war und in den Jahren eine beachtliche Summe an Muskelmasse zugelegt hatte, erkannte ich ihn sofort.