Etwas genervt blickte ich zum gefühlt hundertsten Mal auf meine Armbanduhr. 18:07 Uhr. Er kam zu spät. Und ohne es zu wollen schweiften meine Gedanken zu heute Morgen, zu meiner Schwester, der ich es überhaupt erst zu verdanken hatte, hier zu sitzen und auf einen Mann zu warten, dessen Namen ich nicht einmal kannte.
Noch halb ich Schlaf wuselte ich durch unsere Küche auf der Suche nach allem, was für ein halbwegs anständiges Frühstück ausreichte. Schlussendlich saß ich nur mit einer Tasse Chai Tee an der kleinen Kücheninsel und hing meinen Gedanken nach. Oder besser ausgedrückt: Ich trauerte still den Sommerferien nach, die heute leider ihr Ende nahmen.
Meine Gedanken wurden je unterbrochen, als ein dumpfes Geräusch in meiner Nähe erklang. Ich hatte ganz in Gedanken versunken nicht bemerkt wie Hanna die Küche betreten und sich dem Anschein nach an einem der Hocker angeschlagen hatte.
Sie murmelte etwas vor sich hin, das wie „Verdammtes Ding" klang, aber ich hätte mich auch täuschen können, da ich selbst noch nicht ganz wach war.
„Wo sind Mama und Papa?", fragte sie mich schließlich und ließ sich auf den vorhin noch verfluchten Stuhl fallen.
„In der Stadt", antwortete ich ihr kurz angebunden und nutze die Gelegenheit, um sie kurz mit einem besorgten Blick zu mustern. Hanna sah, um es noch freundlich auszudrücken, schrecklich aus. Irgendwie kränklich. Sie wirkte müde, die dunklen Ringe unter ihren blauen Augen bezeugten es, und dass obwohl sie eindeutig mehr Schlaf als ich abbekommen hatte. Ebenso wie ich trug sie noch ihre Schlafsachen; die lange, blonde Mähne hatte sie sich mehr schlecht als recht zu einem Knoten zusammengebunden.
„Du siehst krank aus", platze es unbeabsichtigt aus mir heraus, während mein Blick noch immer auf meiner Schwester ruhte.
„Und ich hab' mich schon gefragt warum ich mich so scheiße fühle." Ihren Sarkasmus so früh am morgen hätte sie sich auch sparen können. „Sorry, Nora. Ich ärgere mich nur, dass ich ausgerechnet heute krank werden musste." Sie seufzte erschöpft auf und vergrub ihr Gesicht in den Armen, die sie auf der Tischplatte platziert hatte.
Ich war im Begriff, sie gerade zu fragen, was sie so Interessantes an einem Sonntag vorhatte, da fiel es mir wieder von selbst ein.
„Hast du nicht heute dieses Blind Date?"
Hanna seufzte wieder auf. Ups, mein Taktgefühl schien zu dieser frühen Stunde noch im Schlafmodus zu sein.
„Ich werde nicht hingehen", drangen Hannas Worte nur gedämpft zu mir herüber. Sie klang enttäuscht, verständlich, immerhin hatte sie sich seit Tagen darauf gefreut. Aber so wie sie im Moment aussah und sich höchstwahrscheinlich auch fühlte, konnte sie nirgendwohin.
„Aber du könntest gehen – als Ersatz für mich." Sie hob plötzlichden Kopf und sah mich eindringlich an, während ich versuchte, nicht an meinem Tee zu ersticken. Warum musste sie mich mit so einer unsinnigen Idee auch derart überraschen?!
„Nein, auf keinen Fall! Spinnst du?" Schockiert erwiderte ich ihren Blick.
„Warum denn nicht? Sieh es so, es wäre extrem unhöflich jetzt noch abzusagen. Außerdem kennt er weder meinen Namen, noch weiß er wie ich aussehe. Da macht es so gesehen keinen Unterschied, ob du hingehst oder ich."
Das mit dem Aussehen konnte ich noch nachvollziehen, hieß es immerhin nicht umsonst Blind Date, aber wieso kannte ihr Date ihren Namen nicht? Egal, jetzt gab es Wichtigeres!
„Nein!", sagte ich noch einmal entschieden.
Es war geradezu naiv gewesen, zu glauben, dass meine Schwester es bei einem einfachen „nein" beruhen lassen würden. Hätte sie es, würde ich jetzt nicht in dem kleinem Café sitzen und auf meine Verabredung – nein, es war noch immer Hannas!- warten. Wusste er denn nicht, dass es unhöflich war, eine Dame warten zu lassen? Nun gut, mit meinen 17 Jahren konnte man mich sicher nicht als eine Dame bezeichnen, aber das konnte er ja nicht wissen.