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Am Abend des selben Tages saß ich in meiner Einzimmerwohnung auf dem Bett und versuchte all die Unterlagen zu sortieren, die ich erhalten hatte. Dafür, dass erst zwei Tage vergangen waren, waren es ausgesprochen viele.
Ich hielt in meinem Tun inne, als mein Handy neben mir zu klingeln begann. Wahrscheinlich war es mal wieder meine Mutter, die es nicht lassen konnte sich bei mir zu erkundigen, ob alles bei mir in Ordnung war. Überraschenderweise war es jedoch nicht meine überfürsorgliche Mutter, sondern Gabriels Name, der auf dem Display erschienen war.
Für eine Sekunde überlegte ich mir, das Handy einfach weiter klingeln zu lassen, entschied mich dann aber doch dagegen. Meine Neugier und Freude über den unerwarteten Anruf war schlichtweg größer.
„Hallo", nahm ich schließlich den Anruf entgegen und warte gespannt darauf, dass die Stimme am andere sich zu Wort meldete.
„Hallo, Olivia. Hier ist Gabriel." Beim Klang seiner tiefen Stimme spürte ich das warme Kribbeln in meinem Bauch, dessen Bedeutung ich bereits kannte, aber mir nicht eingestehen wollte.
„Ich hatte heute länger Schule und konnte daher leider nicht mehr mit dir reden", fuhr er fort.
Mein Gehirn setzte für die nächsten paar Sekunden aus. Anders konnte ich mir nämlich die nächsten Worte, die über meine Lippen kamen, nicht erklären.
„Über was wollten Sie denn mit mir reden, Herr Wagner?" Sofort tat es mir leid, ihn auf diese Art angesprochen zu haben.Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein tiefes Seufzen. Dann war es still. Nur ein paar Sekunden, aber es fühlte sich deutlich länger an.
„Ich hätte dir sagen sollen, dass ich an deiner Schule unterrichte. Tut mir leid." Es mir nicht gesagt zu haben, schien ihn tatsächlich zu bedrücken.
Mein schlechtes Gewissen wuchs mit jeder weiteren Sekunde.
„Für was entschuldigst du dich, Gabriel? Ich hätte dich ja auch fragen können, habe es aber nicht", meinte ich und stand von meinem Bett auf. Wenn ich telefonierte, musste ich mich einfach bewegen und konnte nicht still sitzen bleiben.
„Sieh es mal so: Du bist der erste Lehrer, mit dem ich mich gut verstehe." Und das war nicht einmal gelogen.Gabriel lachte. Und ich tat es ihm gleich. Der weniger angenehme Teil war geschafft. Wir telefonierten noch lange an diesem Abend miteinander. Und es sollte nicht das letzte Mal sein.
Im folgenden Monat fuhren Gabriel und ich jeden Tag mit dem selben Zug zur Schule und frühstückten anschließend gemeinsam in irgendeinem Café. Wobei das Frühstück eher nebensächlich war und wir mehr damit beschäftigt waren, uns zu unterhalten, uns auszutauschen.
Mehr als das durfte ich allerdings auch nicht erwarten. Ich tat es dennoch. Immer, wenn ich die Augen schloss oder träumte. Es blieb nicht nur bei dem Kribbeln in meinem Bauch. Sobald ich auch nur an Gabriel dachte, begann mein Herz schneller zu schlagen. Ein einziges Lächeln von ihm schaffte es, meine Laune von null auf hundert zu befördern.
Gleichzeit fühlte ich mich unbeschreiblich wohl und geborgen in seiner Gegenwart. Und nicht nur einmal erwischte ich mich bei dem Gedanken, wie es sich anfühlen müsste, wenn er mich in seine Arme schließen und küssen würde.Es waren Tagträume. Mehr nicht.
Gegen Ende Oktober begannen die Treffen für den Theaterkurs. An einem Samstag für je vier Stunden, da unter der Woche keine Zeit dafür blieb. Gabriel übernahm die Leitung der Neunköpfigen Gruppe.
Ich hatte gezögert, als es darum ging, mich für dieses Projekt zu entscheiden. Ich liebte das Theater. Das war mein Hauptargument dafür gewesen. Gabriel als Leiter war mein Hauptargument dagegen gewesen. Der ausschlaggebende Grund warum ich mich dennoch dafür entschieden hatte, war die Tatsache, dass ich keine Note zu erwarten hatte. Gabriel würde mich nicht benoten müssen. Eine Erleichterung für mein Gewissen.
Die Zusammenarbeit mit Gabriel war nicht annähernd so seltsam, wie erwartet. Er pflegte einen lockeren Umgang (ganz anders als während dem Unterricht) während den Vorbereitungen zu unserem Theaterstück mit allen. Wenn wir schon unseren Samstagmittag dafür aufopferten, dann sollte es wenigstens Spaß machen. Das jedenfalls waren seine Worte.
Und wir hatten Spaß. Eine echte Abwechslung zum stressigen Schultag, der von einem alles abverlangte. Wie so viele andere hatte ich vollkommen unterschätzt, wie viel eine Erzieherin leisten musste. Aber mittlerweile war ich eines Besseren belehrt worden.
Eine Woche vor Weihnachten, ein Samstag, waren wir mit den Vorbereitungen für unser Theaterstück fertig und bereit für unsere erste Vorführung. Unser Publikum war, wie sollte es anders sein, eine Kindergartengruppe.
Die große Begeisterung in den Augen der Kleinen zu sehen, während sie die Geschichte eines Piraten verfolgten, der gar kein Pirat sein wollte, machte mich unfassbar glücklich.
Es war ein voller Erfolg. Das fand auch unser Publikum der zweiten Aufführung – die Schüler der Erzieherklassen.Um unsere gute Arbeit zu würdigen, lud Gabriel die gesamte Gruppe zum Essen ein. Alle stimmten begeistert zu. Es war nichts Verwerfliches daran, dass ein Lehrer zum Dank für deren gute Zusammenarbeit mit ihnen essen ging. Ich hatte schon von Lehrern gehört, die mit ihren Schülern in Bars gingen oder sogar zusammen etwas tranken. Und ich sprach nicht von Wasser.
Nach einigem Hin und Her entschieden wir uns für eine Pizzeria ganz in der Nähe, die zum Glück noch genügend Plätze für uns hatte. Es wurde ein schöner Abend. Die Stimmung war ausgelassen und es wurde viel an unserem Tisch gelacht. Gabriels unverkennbares Lachen übertönte allerdings alle anderen.
Nach und nach verabschiedete sich einer nach dem anderen bis nur noch vier von uns übrig blieben. Gabriel, Maria, Caroline (die zwei Mädels aus meiner Klasse) und ich. Wir bezahlten und verließen gemeinsam die Pizzeria. Draußen trennten sich schließlich unsere Wege. Maria und Caroline wohnten in der entgegengesetzten Richtung von mir und waren mit dem Auto da.
Gabriel und ich würden, wie gewohnt, mit dem Zug fahren. Es war kein Geheimnis, dass wir mit dem selben Zug fuhren. Unser gemeinsames Frühstück dagegen schon.Es war bereits dunkel, als wir uns auf dem Weg zum Bahnhof befanden. Nur die Straßenlaternen spendeten ein wenig Licht. Alleine wäre ich niemals durch die Stadt gelaufen, aber mit Gabriel an meiner Seite fühlte ich mich sicher.
Wir redeten über den Abend, doch eigentlich hätte ich anderes lieber getan. Ich wollte ihn berühren. Es hätte mir bereits gereicht, seine Hand in meiner zu spüren. Da waren Gelegenheiten, aber ich traute mich nicht. Er ebenfalls nicht. Diese dumme Vernunft! Einmal wollte ich handeln, ohne über die Konsequenzen nachdenken zu müssen. Das war doch nicht zu viel verlangt, oder?
„Alles in Ordnung, Olivia?", fragte mich Gabriel mit besorgter Miene, als wir kurz darauf im fahrenden Zug saßen und meiner Station immer näher kamen. Der Tag war so schön gewesen. Ich hatte mit Gabriel Zeit verbringen können, doch diese gewisse Distanz zwischen uns war geblieben.
„Ich möchte nicht, dass der Abend jetzt schon endet", kamen die Worte über meine Lippen. Leise, aber laut genug, dass er es dennoch verstehen konnte.
Einmal handeln, ohne über die Konsequenzen nachdenken zu müssen, ging es mir durch den Kopf. Einmal über meinen Schatten springen und die Barriere durchbrechen, die zwischen uns stand. Einmal ... das konnte doch nicht falsch sein.
„Der Abend muss noch nicht enden." Er schenkte mir ein warmes Lächeln und fuhr sich nachdenklich durch das dunkle Haar.
„Du könntest mit zu mir kommen, wenn du willst ..." Gabriel war nicht weniger verunsichert, als ich. Das wurde mir in diesem Moment bewusst.Als wenige Minuten später die Durchsage für meine Station kam, blieb ich sitzen.
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Ich hoffe, euch hat auch der zweite Teil dieser kleinen Geschichte gefallen. :) Ich entschuldige mich für dieses sehr offene Ende, aber ich denke, man kann sich gut denken, wie es mit Gabriel und Olivia weitergeht. ;)