Zwischen den Zeilen [Herr Ruess & Lea]

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Wörter: 1874


Sie konnte nicht ihren Blick von ihm nehmen, derart fasziniert war sie von dem Anblick, der sich ihr bot. Aaran saß einfach nur da, in dem gemütlichen Sessel gesunken und die langen Beine von sich gestreckt. Seine hellen, blauen Augen, die Kühle versprachen und doch Wärme gaben, überflogen konzentriert eine Zeile nach der anderen. Etwas aus dem Inneren des Buches, das er sicher in den Händen hielt, ließ seine Lippen zu einem Schmunzeln verziehen. Er war derart vertieft in die Geschichte, die sich vor seinem Inneren Auge abspielen musste, dass er seine Umgebung vollkommen ausgeblendet hatte. Wäre dem nicht so, hätte sie gewiss nicht derart ungeniert an eines der Bücherregale gelehnt stehen und ihn beobachten können. Es verwunderte sie nicht mehr, ihn zu dieser Stunde in der Bibliothek anzutreffen und doch schaffte es seine bloße Anwesenheit, ihr Herz vor Freude schneller schlag

„Lea!" Erschrocken ließ ich den Stift fallen und sah auf zu einem blauen Augenpaar, das mich musterte. „Es würde mich freuen, wenn du mit deinen Gedanken wieder zu meinem Unterricht zurückkehrst."

„Mit Vergnügen, Herr Ruess", erwiderte ich, kaum war ich vollständig wieder im Hier und Jetzt angekommen. Dass ich mir nicht die Mühe machte, de nsarkastischen Unterton in meiner Stimme zu verbannen, quittierte mei nMathelehrer mit einem verräterischem Zucken um seine Mundwinkel. Herr Ruess war und würde schlichtweg nie einer der Lehrer sein, der durchweg streng blieb.

Ich sah zu, wie er einen kurzen Blick auf das halbbeschriebene Blatt warf, um anschließend wieder vor ans Pult zu gehen. Sein Weg war relativ kurz, da mein Sitzplatz sich in der ersten Reihe ganz am Rand befand.

Die restliche Stunde folgte ich mehr oder weniger aufmerksam, wie unser Mathelehrer versuchte, uns das Geheimnis der Integralrechnung näher zu bringen. Ich lauschte seiner tiefen, samtweichen Stimme unheimlich gerne, obwohl ich dessen Inhalt nur wenig abgewinnen konnte.

„Hast du vorhin an deiner neuen Geschichte weitergeschrieben?", fragte mich Maya, nachdem der Gong die Stunde beendet hatte. Sie saß auf dem Platz neben mir und sah mich aus großen, braunen Augen neugierig an.

„Ja, ich bin abernicht weit gekommen." Mein Blick schweifte für einen kurzen Moment zum Pult. Herr Ruess war gerade damit beschäftigt, in aller Ruhe seine Unterlagen in seine Tasche einzupacken.

„Aber dafür habe ich gestern endlich das zweite Kapitel abtippen können." Ich sah wieder zu meiner Freundin und holte ein paar zusammengetackerte Blätter aus meinem Block hervor. Noch bevor ich reagieren konnte, hatte Maya sie mir aus der Hand genommen und überflog mit funkelnden Augen die Seiten.

Maya war bisher der einzige Mensch, dem ich meine Geschichten gezeigt hatte und ihre Begeisterung dafür war manchmal erschreckend, da sie maßlos übertrieb. Dennoch freut mich mich natürlich über ihr Interesse und ihre Meinung.

„Ich kann es kaum erwarten, das dritte Kapitel zu lesen", sagte sie, ohne ihren Blickzu heben.

„Zuerst musst du das zweite lesen", meinte ich lachend. „Aber sobald das nächste Kapitel fertig ist, bist du die Erste, die es zu lesen bekommt."

„Darf ich dann der Zweite sein?", erklang vor uns eine vertraute Stimme und ließ Maya und mich beinahe gleichzeitig zusammenzucken. Das war nicht das erste Mal, dass Herr Ruess aus dem Nichts auftauchte und ungefragt seinen Senf dazugab. Ich hatte ihm schon mehr als einmal klargemacht, dass er das unmöglich weiterhin bringen konnte, da sonst noch irgendjemand einen Herzinfarkt wegen ihm erleiden würde. Dass ich mich selbst damit gemeint hatte, hatte ich selbstverständlich außen vor gelassen.

„Der Zweite von was?", fragte ich ein wenig irritiert. Durch sein Erscheinen hatte ich beinahe vergessen über was wir uns vor keinen dreißig Sekunden noch unterhalten hatten. Bis es mir wieder einfiel, hatte Herr Ruess meine etwas dümmliche Frage bereits beantwortet.

Lehrer-Schüler OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt