Mit einem ehrlichen Lächeln trat George Rosenthal durch die Tür. Siebzehn Augenpaare waren auf ihn gerichtet, als er schließlich in einem gemächlichen Schritt den kleinen Abstand zwischen der Tür und dem Lehrerpult überbrückte. Rosenthal erkannte sofort, dass er mit seinen gewohnten Lehrmethoden hier nicht weit kommen würde. Es war gerade einmal ein halbes Duzend Schüler, die auf seine Anwesenheit mit Neugier reagierten. Der Rest hatte sich wieder abgewandt, blickte gelangweilt aus dem Fenster, manche auch genervt und bei einigen glaubte er sogar, dass sie sich für die restliche Stunde gedanklich verabschiedet hatten.
Man hatte ihn bereits vorgewarnt - kurz nachdem er die Schwelle zum Lehrerzimmer übertreten hatte -, dass man ihm,dem Neuen, eine der Problemklassen zugeteilt hatte. Rosenthal hatte jedoch keine Probleme damit, sah er es eher als Herausforderung an, diese Kinder in die richtige Richtung zu lenken.
Eines aber ließ ihn für einen kurzen Moment nachdenklich die Stirn in Falten ziehen. Seit er eingetreten war, hatte er keinen einzigen Laut vernommen. Stille herrschte. Eisig und bedrückend lag sie im Raum. In seinen zehn Jahren Berufserfahrung hatte er noch nie eine derartig stille Klasse erlebt. Vielleicht aber, und das erschien ihm gar nicht so abwegig, wollten sie ihn einfach auch nur in Sicherheit wiegen, um später ihr "Potential" erst richtig unter Beweis zustellen.
Ohne ein Wort legte er seine dunkelbraune Tasche auf dem Tisch ab. Ein dumpfes Geräusch, dann war es wieder totenstill.
„Mein Name ist George Rosenthal. Ab heute bin ich Ihr neuer Klassenlehrer und werde Sie zusätzlich in den Fächern Geschichte und Deutsch unterrichten", stellte er sich vor; das Lächeln beibehaltend. Sie sollten ruhig wissen, dass er nicht wie andere Lehrer war. George Rosenthal würde sich ganz bestimmt nicht von ein paar nicht zu lernen gewillten Kindern unterkriegen lassen.
Seine tiefe und doch von so vielen Menschen als angenehm empfundene Stimme verursachte einen Riss in der Stille, doch kaum hatte er zu Ende gesprochen, legte sie sich über alles und jeden in dem Raum wie ein unsichtbarer Schleier.
Prüfend ließ Rosenthal seinen Blick über die verschiedenen Gesichter wandern. Neun Mädchen und acht Jungen, alle in einem Alter von 16 und 17 Jahren. Zu zweit saßen sie je an einem Tisch. Mit einer Ausnahme, wie er feststellen durfte, als sein Blick die Mitte des Raumes streifte. Drei der Mädchen hatten sich an einen Tisch gezwängt. In der letzten Reihe am Fenster hingegen entdeckte er einen leeren Tisch.
„So leid es mir tut, ich muss Sie bitten, dass eine von Ihnen sich umsetzt. Sie werden kaum Platz zum Arbeiten haben, sollten sie ihre Sitzordnung beibehalten", wandte er sich direkt an die drei Mädchen, nachdem er einige Schritte vorgetreten war. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass die Aufmerksamkeit gestiegen war. Es waren weniger gelangweilte Gesichter zu erkennen.
Erleichtert registrierte Rosenthal wie ein wenig Leben ins Klassenzimmer zurückkehrte, als die Mädchen begannen, miteinander zu tuscheln.Die Stille war etwas, das er noch nie gemocht hatte und wohl nie mögen würde.
Nach einigen Sekunden schienen sie zu einem Entschluss gekommen zu sein,denn eines der Mädchen erhob sich, nahm ihre Tasche in die eine Hand und den Stuhl in die andere.
Zufrieden beobachtete Rosenthal wie sie die letzte Reihe ansteuerte. Zu seiner Verwunderung schenkte sie dem leeren Tisch allerdings keine Beachtung. Ihre Tasche landete stattdessen auf einem der anderen Tische und der Stuhl zwischen zwei anderen ihrer Mitschüler. Das war nicht dumm, musste sich Rosenthal eingestehen. Er hatte gesagt, sie solle sich umsetzten, aber nicht wohin.
„Was halten Sie davon, sich an den freien Tisch zu setzten?" Ruhig und beherrscht sprach er die Worte aus. Wenn er eines gelernt hatte, dann, dass es nicht intelligent war, seine Gefühle offen zu präsentieren. Gefühle machten einen angreifbar. Vor allem, wenn man sich in der Schule befand und Lehrer von Beruf war.
„Das kannst du nicht verlangen!" Eine helle, klare und überaus aufgebrachte Stimme schlug ihm entgegen. Sie gehörte zu dem braunhaarigen Mädchen, das gedacht hatte, ihn austricksen zu können.
„Für Sie - und alle anderen in diesem Raum - noch immer Herr Rosenthal", erwiderte er ruhig, aber mit Nachdruck, und fragte dann, weil es ihn tatsächlich interessierte: „Können Sie mir erklären warum?" Seine braunen Augen fixierten die ihren, doch bereits nach Sekunden gab sie auf und senkte den Blick.
„Weil..." Sie verstummte und spielte sichtlich nervös mit ihren Fingern.
„Nun gut ..." Rosenthal wandte der Klasse den Rücken zu, öffnete seine Tasche und zog einen Zettel heraus. Es hatte keinen Sinn, bereits heute die ersten Strafen zu verteilen, waren diese in den meisten Fällen sowieso eher kontraproduktiv als hilfreich. Das Beste wäre sich einen Überblick zu verschaffen über die Stärken und Schwächen seiner Schüler, über mögliche Verhaltensauffälligkeiten. Erst, wenn er das getan hätte, könnte er sich überlegen, wie er vorgehen würde.
„Der Direktor hat mir eine Namensliste geben. Ich bitte Sie mit einem kurzem "Hier" zu antworten und die Hand zu heben, sollten Sie ihren Namen hören. Berg Leonie?"
„Hier!"Ein blondes Mädchen mit Brille in der mittleren Reihe hob die Hand.
Bevor Rosenthal den nächsten Namen auf der Liste vorlesen konnte, wurde er unterbrochen. Einer der Jungen rief einen Namen. Ein anderer hob die Hand und antwortete mit "Hier." Und ehe er sich versah, fielen weitere Namen im Raum und Hände gingen in die Höhe.
Nicht den Versuch unternehmend, um Ruhe zu bitten, ließ er sich auf den ausgepolsterten Stuhl zwischen Tafel und Lehrerpult fallen. Unbeeindruckt studierte er die Liste, blendete die Kindereien aus, was auch seinen Schülern irgendwann auffiel. Keine drei Minuten später war wieder vollkommene Stille einkehrt. Es gab Dinge, von denen man wusste, dass sie eintrafen, und das ohne irgendwelche übernatürliche Fähigkeiten zu besitzen. Dies war eines dieser Dinge.
„Wenn Sie schon den Unterricht hinauszögern wollen, dann überlegen Sie sich wenigstens etwas Originelleres. Und nun melden sich nur diejenigen, die ich aufrufe." Rosenthal merkte sich für die Zukunft, seine Worte präziser zu wählen, um den Unruhestiftern kein Schlupfloch für ihre Schandtaten zu geben.
„Dorner Markus", fuhr er schließlich fort und versuchte im weiteren Verlauf, sich Namen als auch die dazugehörigen Gesichter einzuprägen. Das war etwas, mit dem er schon immer Schwierigkeiten gehabt hatte. Für einen Lehrer nicht unbedingt vorteilhaft, aber bisher hatte es ihm nie große Probleme bereitet.
„König Laura."
Suchend ließ Rosenthal seinen Blick schweifen, doch keiner hatte die Hand gehoben. Alle, ohne Ausnahme, mieden seinen Blick. Entweder sahen sie aus dem Fenster oder auf ihre Tischplatte, wahlweise auch ihre Hände.
„Ist sie vielleicht krank?", warf er die Frage in den Raum, doch niemand machte Anstalten, ihm eine Antwort zu geben. Minuten vergingen, Stille breitete sich wieder aus.
Ein Mädchen aus der ersten Reihe direkt vor dem Lehrerpult, rothaarig und sommersprossig, beugte sich zu Rosenthal vor. Leise und zittrig verließen die Worte ihre Lippen.
„Sie ist nicht mehr in unserer Klasse."„Hat sie die Klasse gewechselt?", fragte er weiter, entschied sich dann aber, die Sache erstmal auf sich beruhen zu lassen, als er das immer blasser werdende Gesicht des Mädchens bemerkte.
Er räusperte sich laut, dann fuhr er fort, als hätte es dieses eigenartige Stillschweigen nie gegeben. Rosenthal behielt recht. Trotz der Albernheiten, hatte er noch nie eine derart stille Klasse erlebt. Seltsamerweise ließ ihn das Gefühl nicht los, dass es etwas mit dem leeren Tisch zu tun hatte.
Und mit ihr. Laura König.