So, neues Jahr, neuer OneShot. :)
Da er relativ lang ist, werde ich ihn in zwei Teile aufteilen.
Euch viel Spaß beim Lesen des ersten Teils. :)Wörter: 1625
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Erleichtert atmete ich aus, als ich mich endlich auf einen der schäbigen Sitze im Zugabteil fallen lassen konnte. Irgendwie – ich konnte beim besten Willen nicht sagen wie – hatte ich meinen ersten Schultag in der bisher fremden Stadt überstanden. Mein Kopf war wie in Watte gepackt. Schuld daran waren all die Informationen, die gefühlt von allen Seiten auf mich eingeströmt waren.
Und ich war müde. Wir hatten mittlerweile halb fünf am Abend und ich war seit gut zwölf Stunden auf den Beinen. Noch vor dem Sonnenaufgang aufzustehen war eine echte Umstellung und Herausforderung zugleich.
Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen und mich zurückgelehnt, dann aber hätte ich riskieren müssen, einzuschlafen und schlimmstenfalls sogar meine Station zu verpassen. Um mich abzulenken, holte ich daher das Buch heraus, das ich heute morgen in meine Tasche gepackt hatte und begann zu lesen.
Am Rande nahm ich wahr, wie die Türen des Zuges zugingen und er sich in Bewegung setzte. Fast zeitgleich nahm ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt rechts von mir wahr. Unbewusst sah ich hoch und beobachtete wie sich ein Mann gegenüber von mir niederließ. Sein Blick war nach draußen gerichtet, was mir die Möglichkeit bot, ihn ungeniert zu mustern.
Ich tat es nicht bewusst, aber seit ich begonnen hatte, zu schreiben, nahm ich meine Umgebung und Mitmenschen anders wahr. Sobald ich etwas sah – so klein es auch sein mochte -, das mein Interesse weckte, versuchte ich mir jedes Detail davon einzuprägen.Der Mann mir gegenüber jedenfalls war interessant. Er war sicherlich keines dieser Calvin Klein Models, dem alle Frauen zu Füßen lagen. Nichtsdestotrotz hatte seine gesamte Erscheinung etwas an sich, das es einem unmöglich machte, ihn nicht anzusehen.
Er trug ein schwarzes Hemd, das unter seiner geöffneten Lederjacke hervorblickte und er ordentlich in seine Jeans gesteckt hatte.
Sein dunkelbraunes Haar dagegen sah aus, als wäre er heute morgen, anstatt einen richtigen Kamm zu benutzen, nur mal kurz mit den Fingern durchgefahren.Wahrscheinlich hatte ich ihn viel zu lange angestarrt, denn er drehte sich plötzlich zu mir herum und sah mich aus seinen dunklen Augen direkt an. Ein freundliches Lächeln umspielte seine Lippen, was seinen markanten Gesichtszügen sofort etwas Sanftes verlieh.
Unbewusst erwiderte ich sein Lächeln und senkte anschließend den Blick, als sich ein warmes Kribbeln in meinem Bauch ausbreitete. Ich versuchte mich fast schon krampfhaft auf das Buch in meinen Händen zu konzentrieren, doch die unerwartete Reaktion meines Körpers hatte mich total aus der Bahn geworfen.
„Was liest du da?" Der Klang einer tiefen Bassstimme ließ mich wieder aufsehen. Mein Gegenüber hatte schon wieder (oder noch immer) seinen Blick auf mich gerichtet. Genauer gesagt: Auf die Rückseite meines Buches. Er schien seine Frage ernst gemeint zu haben, denn ich war mir sicher, dass gespieltes Interesse anders aussah.
„Die Welt ohne uns von Alan Weisman", erwiderte ich, ohne lange zu überlegen, und ließ ihn einen Blick auf das Cover riskieren.
„Darf ich raten? Es geht darum was mit der Erde passiert, sollte die Menschheit einmal aussterben." Er setzte eine nachdenkliche Miene auf, schenkte mir dann aber ein schiefes Lächeln.
„Ich frage mich, wie du das nur herausfinden konntest." Auch dieses Mal erwiderte ich sein Lächeln. Sein Versuch, lustig zu sein, war schon irgendwie süß.
„Wie heißt du?", wollte ich von ihm wissen. Es wunderte mich, dass es mir so leicht fiel, mit ihm zu sprechen. Anstatt mich auf ein Gespräch einzulassen, hätte ich normalerweise meine Nase wieder in das Buch gesteckt.