Die Nachteile der Unsterblichkeit

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Der 05. Dezember 2103. Schnee rieselte aus den grauen Wolken hinab und Magnus drückte seine Nase noch weiter gegen die kühle Fensterscheibe.
Er sah die vielen kleinen Kinder draußen spielen, so unbesorgt, nicht wissend, welchen Schmerz das Leben mit sich bringt.
Und Magnus hatte schon viel Schmerz in seinem Leben erlebt.
Er lehnte sich zurück in den roten Sessel, der schon seit Jahrzehnten in dem Loft in Brooklyn stand. Es war Alexanders Lieblingssessel gewesen.
Magnus erinnerte sich gerne an das Bild, wie sein Mann in eine Decke geschlungen da saß und einen Kaffee getrunken hatte. Wie er den Kindern etwas vorgelesen hatte oder wie Magnus auf seinem Schoß saß und seine Lippen auf denen des Schattenjägers lagen.
Wie gerne würde er seinen Mann noch einmal in diesem Sessel sehen. Eine neue Erinnerung, eine neue Szene, die er in seinen Gedanken Revue passieren lassen könnte, so oft er wollte.
Der Hexenmeister besaß abertausende an Erinnerungen, doch auch diese waren nicht genug. Denn auch Erinnerungen konnten die Toten nicht wieder auferstehen lassen. Doch Erinnerungen waren alles, was Magnus von IHM geblieben sind. Erinnerungen, die in seinem Herzen festgeankert waren und ihn nie wieder loslassen würden.

Er trank einen Schluck seines Tees und schloss die Augen.
Vor seinem inneren Auge sah er Alexander.
Alexander, der ihn nach einem Date fragte.
Alexander, der ihn vor allen anderen Schattenjägern in Idris küsste.
Alexander, den er verlassen hatte.
Alexander, der ihn in Edom gehalten hatte, damit er nicht zusammenbrach.
Alexander, der mit ihm zwei wundervolle Söhne adoptierte.
Alexander, der ihm das Ja-Wort gab.
Alexander, der älter wurde und trotzdem noch der schönste Mensch auf Erden war.
Und schließlich, Alexander, der in seinen Armen starb.

Magnus öffnete seine Augen wieder. Das Licht der Lampe blendete ihn kurz. Plötzlich fiel etwas hinter ihm auf den Boden und zersprang mit einem lauten Knall in tausende von Einzelteile.
Magnus blickte zur Seite mit dem Gedanken an seinen Ehemann, der mal wieder etwas fallen gelassen hatte und dann ganz rot wurde, weil es ihm peinlich war. Doch dieses Mal – und die Male davor – war es nur der große Vorsitzende Miau Tse-Tung gewesen, dessen Pfoten mit dem Alter immer ungeschickter wurden. Nicht er war es gewesen, der den Kater unsterblich gezaubert hatte, sondern sein Sohn Max, der es mit 12 nicht verkraften wollte, dass der Kater sterben würde.
Hätte Magnus dann schon gewusst, wie wichtig dieser Kater für sein späteres Leben war, hätte er nicht so mit Max geschimpft, dafür, dass er einen verbotenen Spruch angewandt hatte.
Ach, das waren noch Zeiten...
Heute lebte Max mit seiner Vampir-Freundin Cara in South Carolina und kam nur noch zu besonderen Anlässen vorbei. Magnus freute sich schon auf Weihnachten, wenn er seine Familie und seine Freunde wiedersah. Denn außer Max gab es noch alle Nachkömmlinge der Familie Lightwood. Dean, Sam, Lucie, Charlotte und all die anderen... alle waren sie seine Familie, denn auch er war im Herzen ein halber Lightwood.

Mit einem Seufzen erhob er sich von dem roten Sessel und schlenderte in die Küche, um die Scherben aufzusammeln. Mit einem Fingerschnipsen stand ein blauer Eimer neben ihm auf dem Boden und Magnus machte sich daran, die Scherben des Glases aufzusammeln.
Sein Gesicht spiegelte sich in einem größeren Stück und er sah das, was er immer sah, wenn er in den Spiegel blickte. Ein Halbasiate im Alter von etwa 20 Jahren mit Katzenaugen, dessen Licht schon längst nicht mehr so strahlte, wie vor 80 Jahren, und schwarze, kurze Haare, die er sich geschnitten hatte, als Alec um die 50 Jahre alt war.

Er erinnerte sich damals noch daran, wie er unbedingt altern wollte, denn es ist nicht leicht mit jemanden zusammen zu sein, der denkt, man würde ihn nicht mehr lieben, nur weil er jetzt Falten hat und man selbst jünger aussieht wie der eigene Sohn.
Doch auch sein Sohn Rafael war vor wenigen Jahren im Alter von 75 Jahren verstorben. Er ist im Kampf schwer verletzt worden und selbst Catarina hatte nichts mehr für ihn tun können. Seit diesem Tag war Magnus alleine.
Rafe hatte sonst alle paar Wochen mal nach seinem Vater geschaut, aber nun hörte Magnus den Schlüssel im Schloss seiner Wohnung nur noch, wenn Catarina mal vorbei kam.
Er hatte seinen Mann und seinen ältesten Sohn verloren – denn obwohl Max mittlerweile schon viel älter ist, als sein Bruder bei seinem Tod, betrachteten die beiden Hexenmeister Rafe noch als den großen Bruder und ältesten Sohn.

„Wie erträgst du das alles?", hatte Max ihn an Rafaels Beerdigung gefragt. „Zu wissen, dass alle um dich herum sterben werden. Und man selbst kann nichts dagegen tun."
Magnus hatte seinen blauen Sohn damals in den Arm genommen und gemeint: „Man gewöhnt sich nie daran. Jeder Tot eines geliebten Menschen ist wie ein Schlag in deinen Magen – es tut weh, doch nach einer Zeit ist der Schmerz wieder weg. Und dann gibt es noch die, dessen Tod einen wie ein Messerstich trifft. Es wird immer eine Narbe geben. Jeder normale Mensch wacht morgens auf, mit dem Wissen, dass die Zeit irgendwann vorbei ist. Und wir? Wir sitzen hier und sehen das Ende des ewigen Ganges der Unsterblichkeit nicht."
Magnus wusste, dass dies nicht die Antwort war, die sein Sohn erhofft hatte, doch ihm einfach zu sagen: „In hundert Jahren wirst du sie vergessen", wäre eine Lüge. Und er log seinen Sohn nicht gerne an.

Jetzt saß Magnus noch immer auf dem Boden, in der Hand die Scherben des kaputten Glas.
Er könnte dem Schmerz ein Ende setzen. Ein für alle mal.
Es bräuchte nicht mehr, als diese Scherbe, die über sein Handgelenk fuhr. Dann wäre er wieder bei seinem Mann und seinem Sohn.
Doch Magnus hatte ein Versprechen abgegeben.
„Du wirst für uns beide weiterleben.", hatte Alexander kurz vor seinem Tod gesagt. „Versprich es mir."
Und Magnus hatte es ihm versprochen.

Warum müssen Gefühle so mächtig sein? Warum können sie jegliche Vernunft auffressen und einen völlig verloren zurücklassen?
Magnus fand keine Antwort auf diese Frage.

Heute mal ein etwas traurigeres Kapitel...
Alles gute zu Nikolaus :)

The Malec ChroniclesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt