»Hab ich schon mal erwähnt, wie sehr ich dich hasse?«
»Bisher noch nicht, aber du brauchst auch gar nicht erst damit anfangen.«
»Denn ich hasse dich.
Ein Kichern entweicht meinen Lippen, was für gewöhnlich wirklich nicht meine Art ist. Ich kichere nicht. Ich bin eine erwachsene, gestandene Frau, die sich die Decke über den Kopf zieht und kichert. Herrje, in Sams Gegenwart verwandle ich mich immer wieder zu der Jugendlichen zurück, die ich nie war.
»Hey, du willst es Theresa doch authentisch vorspielen, oder?«, frage ich, um mich zu verteidigen. Doch in Wahrheit hat es mir riesigen Spaß gemacht, ihn aus der Fassung zu bringen und das nur mit einem Satz.
»Wieso teilt ihr euch nicht ein Zimmer? Wir müssen ja nicht so prüde tun.«
Ja, okay. Es waren zwei Sätze. Zwei sehr gemeine Sätze, wenn man in Betracht zieht, dass Diana und Sam kein Paar sind. Zwei sehr gemeine Sätze, wenn man in Betracht zieht, dass mein Vater, obwohl er die Wahrheit kennt, mitgespielt hat und den beiden auch noch die Doppelsuite gegeben hat, die er sonst nur sehr selten an Gäste vermietet.
»Du bist ein Biest«, zischt Sam weiter, obwohl ihm klar sein sollte, dass es nur die natürliche Reaktion sein musste. Ich meine, hallo? Er spielt mit meiner besten Freundin Pärchen vor. Erwartet er, dass ich einfach ruhig da sitze, wie beste Freundinnen das tun würden, wenn sie keine Gefühle hätten?
Verdammter Mist, Gefühle sind scheiße.
Da Sam jedoch ein Gentleman ist, hat er die »Hochzeitssuite«, wie Diana und ich sie nennen – wir haben schon unzählige Nächte in dem weitläufigen Zimmer verbracht, das streng genommen aus zwei separaten Zimmern besteht. Es ist mal das Zimmer gewesen, in dem Elisa und Großtante Pennie gewohnt haben, bevor sie sich eine eigene Wohnung leisten konnten. Demnach taucht es in offiziellen Beschreibungen des Hotels gar nicht auf.
Moment, ich hab den Anfang des Satzes gar nicht beendet ... Jedenfalls hat Sam Diana das Zimmer großzügig überlassen und wollte bei meinem Vater ein eigenes Zimmer nehmen. Heimlich, versteht sich, ohne dass seine Mutter das mitbekommt. Ich weiß nicht, ob mein Vater einfach weiter gespielt hat oder ob wir wirklich ausgebucht sind. Auf jeden Fall liegt Sam jetzt auf meinem Sessel, da mein winziges Zimmer über keine Couch verfügt.
»Du kannst auch auf dem Boden schlafen, ich glaube, das wäre gemütlicher.«
Einen Augenblick lang ist es still und Sam scheint wohl eingeschlafen zu sein. Gut für ihn, Schlaf hat er bitter nötig, auch wenn er die kommende Woche frei hat. Immerhin ist es meine letzte Woche ohne Tour, die letzte Möglichkeit vor Weihnachten, noch ein bisschen Zeit mit mir zu verbringen.
»Oder ich kann einfach zu dir ins Bett steigen«, durchbricht er auf einmal die Stille und ist bereits dabei, die Decke zu heben, um zu mir zu kriechen.
Ist ja nicht so, als wäre es ein Einzelbett. Ist ja nicht so, als würde er sich an mich rankuscheln. Ist ja nicht so, als wäre dies nicht das erste Mal, dass wir zusammen in einem Bett liegen. Ist ja nicht so, dass ich es kaum schaffe, ruhig zu atmen, weil er so verdammt nah an mir liegt, dass ich wünschte, ihm einfach durch die viel zu langen Haare streichen zu können.
Ist ja nicht so, als würde er schnarchen, bevor ich auch nur die Gelegenheit habe, sein Verhalten zu kommentieren.
Seine Mutter schnappt sich Papas Platz. Das mag eigen klingen und wahrscheinlich ist es das auch, doch Papa sitzt immer am Kopfende des Esstisches, den es in der privaten kleinen Küche gibt. Er sitzt immer am Kopfende im Restaurant. Er sitzt immer am Kopfende bei uns, bei sich, überall wo wir sind.
An diesem Morgen setzt Theresa sich ans Kopfende der zwei zusammengeschobenen Tische, während Diana links und Sam rechts von ihr Platz nehmen. Sie sitzt da, wie die verdammte Chefin und eigentlich bin ich ein sehr friedvoller Mensch, aber ich konnte die Nacht kaum schlafen und mir ist übel und ich merke schon wieder, wie in meinem Kopf eine Achterbahn der Gedanken losgeht und ich ...
»Kassandra, alles in Ordnung?«
Sie nennt mich als einzige Kassandra. Das tut sonst niemand. Mal abgesehen davon, dass meine ganzen Verwandten und Freunde der Familie sich angewöhnt haben, mir Spitznamen zu geben, die nichts mit meinem Namen zu tun haben, nennt mich auch sonst niemand Kassandra. Es ist seltsam, so genannt zu werden.
Ich lasse das Gespräch weiter an mir vorbeirauschen. Meine Freunde kennen das von mir. Kennen die Momente, wenn ich abdrifte und nicht mehr ganz aufmerksam bei der Sache bin. Meistens sind das die Tage, an denen ich abends allein im Bett zu kämpfen habe, wenn Sam mich nicht vorher erlöst und zu mir ins Zimmer kommt, um eine Serie zu schauen.
Ich sagte ja, dass unsere Beziehung zueinander speziell ist. Ich kenne seine Probleme, er kennt meine. Wir sind ein Team.
»... Du bist überhaupt nicht reif genug, um dich um ein Kind zu kümmern«, höre ich und erwache regelrecht.
Jetzt wird es endlich interessant.
Diana wirft mir über den Tisch hinweg einen leicht gequälten Blick zu und ich weiß, wieso. Niemand erlebt gerne einen Streit mit. Schon gar nicht den zwischen Kindern und Eltern.
»Mutter«, stöhnt Sam, als wäre er wieder der 20-jährige, der gerade aus der Klinik kommt und ausziehen will. Damals ließ ich ihn schon heimlich in der Wohnung über dem Café wohnen, ohne dass es jemand wusste. Einfach damit er Zuhause wegkommen konnte.
»Es war eine gute Idee von Rebecca, damals mit Leonie wegzulaufen. Du hast dich unreif benommen, wie ein kleines Kind, das kaum aus den Windeln raus ist! Von dir hätte ich zwar mehr erwartet, aber verwunderlich war es auch nicht.«
»Mutter«, wiederholt er, drängender diesmal. Es ist ein bisschen wie bei einem Autounfall, ich will eigentlich nicht hinhören, es mitansehen, aber wegschauen geht auch nicht. Dafür ist allein die berufliche Neugierde zu groß. In jeder Alltagsszene entdecke ich Inspirationen zu neuen Werken.
Was mich an meinen Termin mit meiner Agentin erinnert. Verflucht, wo ist nur mein Kopf? Langsam erhebe ich mich von meinem Stuhl, trinke den letzten Rest Kaffee aus und schnappe mir ein Mini-Croissant, das ich schnell in eine Serviette einwickle. Papa tut es mir gleich, offensichtlich dass auch er fliehen will. Nur Diana scheint allmählich Gefallen an der Situation zu finden und trinkt in Ruhe ihren Earl Grey weiter, während Theresa und Sam unser Aufstehen nicht einmal bemerken.
Immer wenn man denkt, die eigene Familie ist das Seltsamste, was einem begegnen kann ...
»War schön, dich mal wieder zu sehen, Theresa«, reiße ich die Aufmerksamkeit von ihr auf mich und lächle allerliebst. »Ich muss leider schon los, meine Agentin will mit mir die letzten Details der Lesungen durchgehen.«
Triumphierend sieht sie zurück zu ihrem Sohn. »Siehst du, selbst Kassandra macht etwas aus ihrem Leben.«
Was heißt denn hier selbst? Pfft. Blöde Kuh.
Papa räuspert sich ebenfalls. »Ich werde mich dann mal um den Brand kümmern. Und um .. die Arbeit ... im Hotel ... Und so ...« Er bemerkt ebenfalls, dass Theresa sich bereits wieder von uns abgewendet hat. Verrückte Frau, soviel steht fest.
Beim Verlassen des Speiseraums drücke ich Papa einen Kuss auf die Wange und schreibe Angelique, dass wir das Treffen nicht in meiner Wohnung abhalten können. Diana schreibe ich, dass ich sie dringend sprechen muss, sobald die Luft wieder rein ist. Sam schreibe ich, dass es mir leid tut und dass ich ihn lieb habe.
Vielleicht hat Diana nämlich Recht. Vielleicht sollte ich allmählich dazu stehen, dass ich ihn mag.
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Everyday at 5AM {I'm asleep}
General Fiction»Jeden Morgen um fünf Uhr liege ich in meinem Bett. Jeden Morgen um fünf Uhr bin ich tief und fest am Schlafen. Das ist nicht unbedingt der spannendste Einstieg in diese Erzählung - aber es ist der Anfang meiner Geschichte.« Kassandra Moons Leben be...