#15

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Ich wünschte, ich könnte sagen, dass alles nur ein Traum war. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass meine Großmutter nicht gestorben ist. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Welt kunterbunt und toll aussieht und nicht von schwarzen Regenwolken verhangen ist.

Das ist aber nicht die Realität. So sieht die Wahrheit nicht aus.

Statt Regenbogen-Sonnenschein muss ich meine Lesungstour verschieben, um für Papa da zu sein. Um überhaupt da zu sein. Mir war bisher nicht bewusst, wie viel Schmerz noch in mir steckt, wie viel Leid ich ertragen kann, doch die Tage nach Skyes Tod reißen mich in ein Loch, aus dem ich nicht wirklich wieder herauskomme.

Wir hatten kein Verhältnis wie Papa und sie. Sie hat viele Jahre weit weg von uns gewohnt, doch sie war mein Zuhause. Sie verstand mich, wenn andere es nicht taten. Oft auch ohne Worte. Sie war für mich da und die einzige Großmutter, die ich hatte.

Jetzt ist sie weg. Fort. Tot.

»Ist es nicht vollkommen egal, was du anziehst?«
»Nein.«
»Kas …«
»Nein«, wiederhole ich bestimmter und ziehe mich erneut um. Das vierte, vielleicht auch schon fünfte Mal heute.

Nichts erscheint mir gut genug für die Beerdigung. Nichts scheint so einem Anlass würdig zu sein. Nichts erscheint Skye würdig zu sein.

Mein Kleiderschrank besteht nicht aus vielen dunklen Sachen und die drei Kleider, die Diana mir gekauft hat, erscheinen mir auch nicht gut genug. Verdammt, nichts kommt mir gut genug vor. Was vielleicht daran liegt, dass ich gar nicht dorthin will. Wie selbstreflektierend von mir, meine Therapeutin wäre stolz auf mich.

»Kas, bitte. Wir kommen zu spät.«
Sam hat recht. Das wissen wir beide. Doch so sehr er versucht für mich da zu sein, desto mehr stoße ich ihn weg. Er wird bald sowieso wegziehen, was spielt das für eine Rolle? Wenn ich am Ende alle verlieren, die ich liebe? Was spielt da überhaupt noch eine Rolle?

Ich weiß nicht, welches Wetter ich mir für heute gewünscht habe, denn Sonnenschein wirkt zu fröhlich und Regen zu klischeehaft. Doch der Himmel ist von einem satten Blau-Grau. Lauter Wölkchen mischen sich dazu und verdecken somit die Sonne. Das beste aus allem. Das hätte Skye gefallen.

Alle kommen. Mama steht neben Papa und mir, hält unsere Hände während ein Pfarrer das Leben von Skye vorträgt, als würde er sie zu einem Jobinterview bitten. Er erzählt von ihrer Jugend, von ihrem Verhältnis zu ihrem Bruder, von seinem Tod. Er berichtet von der wunderbaren Liebesgeschichte und der glücklichen Familie, die sie besaß.

Als es Zeit ist, sie ins Grab zu lassen, sie endgültig unter die Erde zu verfrachten, geben meine Beine unter mir nach. Doch Sam steht neben mir, hält mich aufrecht, lässt mich nicht fallen. Auch wenn ich keine Worte habe, versteht er mich.

Elisa und Großtante Pennie halten sich erstaunlich gut und kümmern sich um die Verpflegung aller Trauergäste, huschen von Hier nach Dort. Viele sind gekommen. Viele sind da, um Abschied zu nehmen. Viele, die ich nicht kenne.

Wie es bei mir aussehen würde? Wie es bei mir ausgesehen hätte, damals, vor einigen Jahren? Hätte ich eine ganze Kapelle füllen können? Hätte mein Tod Massen angelockt?

»Trauerkloß«, holt Sam mich erneut aus meinen Gedanken, was heute seine Aufgabe zu sein scheint. Es war nicht meine Idee, dass er mitkommt. Er kannte Skye nicht, sie war ihm nicht wichtig. Doch Elisa wollte nicht, dass ich alleine bin. Alleine in der Masse.

»Du musst dir das nicht weiter antun. Lass uns verschwinden.«

Ich lächle ihn gequält an. Wie gern ich das tun würde, doch das ist nicht der richtige Weg. Nicht vor allem kann man davonlaufen. Große Worte, gerade aus meinem Mund. Es gibt jedoch Dinge im Leben, die zu wichtig sind, als dass man sie ignorieren sollte. Egal wie sehr es einen zerreißt.

Ich verneine, doch Sam scheint davon nicht angetan zu sein. Fast wirkt es, als wäre er aufgebracht, auch wenn es dafür keinen Grund gibt. Es ist die Trauerfeier meiner Großmutter, wie sähe es aus, wenn ich einfach verschwinden würde?

Weil mein Kopf von der Lautstärke und dem Getummel in dem riesigen Haus noch mehr wehtut, bringe ich mein Glas in die Küche und verschnaufe einen Moment. Wir sind im Haus, in dem Papa aufgewachsen ist. In dem Skye aufgewachsen ist. Hier hat sie gelebt, hier hat sie ihre Familie gegründet. Hier … betrauern wir ihr Ableben. In einem anderen Leben hätte es Papa gehören können. Mir. Wir hätten nicht nach der Moon-Familienseite leben können, sondern nach Rain-Art. (Ja, über den Nachnamen von Großmutter Skye kann man vieles sagen. Gewöhnlich ist er nicht.) Wir hätten hier leben können. Umgeben von Skyes Familienandenken.

»Diese vielen Menschen machen mich nervös.«

Lächelnd sehe ich auf. Mama steht auf der anderen Seite des Raumes und sieht perfekt aus, obwohl auch sie seit Tagen nichts anderes schafft als zu weinen. Auch sie hatte eine starke Bindung zu Skye und dass das alles … ich hätte nie gedacht, dass es mich so schwer mitnimmt. Ich dachte, ich wüsste, was Trauer ist. Ich dachte, ich wüsste, wie ich mit meinen Gedanken umgehen muss, die schon wieder mein Gehirn durchfluten.

»Solltest du das nicht gewöhnt sein?«, frage ich und aus Ermanglung einer Alternative räume ich die Spülmaschine ein. Im gesamten Haus schwirren diese unglaublich vielen Menschen herum, doch hierher verirrt sich niemand. Das Buffet wurde im Esszimmer aufgebaut, alles was gewollt werden könnte, steht draußen.

»An Dinge, die man nicht mag, gewöhnt man sich nie«, entgegnet Mama und auch sie lächelt. Als würde ein Lächeln alles wieder gut machen. Das war schon immer unsere Stärke, eine Maske aussetzen und so tun, als gäbe es keinen Anlass, sich Sorgen zu machen. Falscher könnte es nicht werden.

»Wann musst du fahren?«

»Morgen früh geht unser Zug«, seufze ich, während ich ein weiteres Glas in die Spülmaschine räume. Monotonie ist alles, was mir die vergangenen Tage geblieben ist.

Statt einer verbalen Antwort nickt Mama nur. Viel zu sagen haben wir uns schon lange nicht mehr. Eigentlich hatten wir das noch nie. Es gab eine Zeit, da gab ich mir die Schuld daran, bis ich erkannte, dass manche Beziehungen einfach so sind. Nur weil wir blutsverwandt sind, müssen wir nicht die besten Freundinnen sein.

Manche Dinge sollen nicht sein.

Everyday at 5AM {I'm asleep}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt