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Wenn wir schon bei Beschreibungen und Vorstellungen von Menschen in meinem Leben sind, kommen wir zu einem der wichtigsten Menschen meines Berufslebens. Angelique Röber. Sie entspricht dem klassischen Klischee-Modegirl, nur dass sie das eben genau nicht ist. Sie ist Literaturagentin ihrer eigenen netten kleinen Agentur.

Sie ist Geschäftsfrau, durch und durch. Und eine verdammt gute. »Der Mond und Ich« hatte sie innerhalb weniger Tage fest unter Vertrag und das, obwohl sie eigentlich nur zufällig auf mich stieß. Noch zufälliger eigentlich, weil sie Papas Exfreundin ist.

Ihre blonde Mähne trägt sie wie immer kunstvoll hochgesteckt, an ihren Fingern blitzen Ringe und auf ihrer Nase sitzt eine Brille, die vermutlich mehr kostet als meine Studiengebühren in einem Jahr.

Vor ihr auf dem Tisch steht ihr Notebook, ihr Handy und ihr zweites Handy presst sie sich ans Ohr. Was sie alles abschaltet, sobald sie mich sieht.

»Kassy, hi«, ruft sie quer durch den Laden und mein Grinsen wird größer. Ich liebe sie. Ohne sie würde ich auch keine Tour machen, denn ohne sie würde ich mich verloren in dem großen Meer an Verlegern, Buchhandlungen und Lesern fühlen. Sie leitet mich da durch. Auch wenn Papa und sie nicht sonderlich lange zusammen waren - dass sie es überhaupt waren, verwundert mich bis heute - ist sie zu einem gewissen Grad ein Teil von uns geblieben.

»Du bist zu spät.«

»Ich bin sogar 20 Minuten zu früh.«

»In meiner Welt ist das wieder eine halbe Stunde zu spät.«

Das ist Angelique.

Bevor ich mir auch nur etwas bestellen kann, rattert sie auf einen Schlag Daten herunter. Termine in Buchhandlungen und auf kleineren Messen. Gespräche mit anderen Verlagen und Autoren. Lesungen in Restaurants und Cafés und in gemieteten Hallen. Ich soll mir Gedanken um mehrere Ansprachen machen, über Textstellen, die ich vorlesen will und was ich tragen möchte. Nach kurzer Zeit schwirrt mir derartig der Kopf, dass ich um eine Pause bitte.

Und Angelique ist die einzige Person außerhalb meines persönlichen Umfeldes, die von meiner Krankheit weiß und sie respektiert.

Aber das war, was ich wollte? Diesen ganzen Quatsch, nur um meinem Buch die benötigte Werbung zu geben? Als wäre der ganze Marketing-Kram, den ich ohnehin schon jeden Tag im Internet erledige nicht genug. Diese ewige Selbstanbiederung an die Leser.

Entweder sie finden mich und mögen mich ... oder sie tun es nicht. Muss ich dafür Zitate posten und Bilder zeigen und so tun, als würde es mir Spaß machen, ein Mensch im öffentlichen Leben zu sein? Bald schon muss ich mir Reportern reden und Interviews führen - noch mehr als jetzt schon.

Widerlich.

»Es ist ja schlimmer als bei einer Brautschau«, seufze ich und blättere die zigtausend Seiten Notizen durch.

»Nun.« Angelique schlürft geräuschvoll an ihrem Kakao. Noch nie habe ich sie etwas anderes außer Kakao oder Wasser trinken sehen. Scheint, als hätte jeder seine Macken. »Bei einer Brautschau hast du eine begrenzte Anzahl an Mitbewerbern. Beim Veröffentlichen eines Buches ist die Konkurrenz endlos.«

Wo sie recht hat ...

»Der erste Termin mit den Leuten von der örtlichen Tagespresse ist nächste Woche, danach wirst du zuerst an einer Schule reden.«

Ein beiläufiger Satz, der dafür sorgt, dass ich mich an meiner eigenen Spucke verschlucke. Sehr glamourös von mir, nicht wahr?

»An Schulen?«

»Natürlich. Bei dem Thema.«

Natürlich. Natürlich. Natürlich.

Es ist kein Geheimnis, das ich monatelang in einer psychiatrischen Klinik war. Oder der Grund für diesen Aufenthalt. Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag hatte ich den Plan gefasst, mir das Leben zu nehmen. Ich fuhr weg, um noch einmal etwas zu erleben, etwas zu sehen. Ich wollte nicht im Kreis meiner Familie sterben, ich wollte allein sein. Nur dass ich unterwegs auf zwei junge Menschen traf, die zu so etwas wie Freunden wurden. Ich sah sie danach nie wieder, aber auch jetzt noch sind sie in meinem Kopf.

Alles was damals geschah, wie es mir damals ging, wie ich überhaupt erst in diese Abwärtsspirale an schlechten Gedanken gerutscht bin, die mich zu meiner Entscheidung gedrängt haben ... all das hielt ich in einer Art Tagebuch fest.

Darf ich vorstellen, das ist »Der Mond und Ich«. Eine Geschichte über ein Mädchen, das sterben will und als einzigen Freund zunächst den Mond hat, dem sie ihre Geschichte erzählt. Nacht für Nacht für Nacht.

Der Verlag wollte erst, dass ich eine Romanze draus mache. Dass Layla, die Hauptfigur, sich in ihren männlichen Begleiter Mark verliebt. Das wäre beliebter bei den Lesern, aber nicht authentisch. Angelique half mir damals, eine Nicht-Veränderung durchzusetzen.

Sie schaffte es auch, die meisten Leute von der Presse davon zu überzeugen, meine persönliche Geschichte hierbei größtenteils außen vor zu lassen. Keine Ahnung, wie sie das angestellt hat, aber es tauchen nur selten Fragen zu dieser Zeit meines Lebens auf.

Versteht man jetzt, wieso die Vorstellung, darüber vor Schülern zu reden, mich so fassungslos macht? Wieso mich die Idee, überhaupt vor Menschen davon zu reden, mir Angst einjagt?

Es ist nicht einfach nur irgendeine Geschichte, es ist meine Geschichte. Es ist okay, wenn sie gelesen und diskutiert wird. Es ist okay, wenn man sie mag oder hasst oder nicht liest. Es ist nicht okay, wenn ich erklären muss, wie es dazu kam, zu dieser Idee. Es ist noch weniger okay, das vor Menschen zu tun, die in einem ähnlichen Alter sind, wie ich es damals war.

Ich kann nicht vor Schülern stehen und sagen, dass Laylas Idee dumm war, denn sie war es nicht. Nicht für mich, in diesem Moment. Ich kann doch nicht ... Ich kann diese Jugendlichen nicht so schamlos belügen. Nicht so, wie ich Erwachsenen etwas vormachen kann. Immerhin haben die mehr Lebenserfahrung und sollten es besser wissen.

»Angelique, ich kann das nicht.«

»Was?«

»Vor Schülern«, erkläre ich kurz angebunden. »Ich kann nicht vor Jugendlichen darüber reden. Das war nicht Teil der Abmachung.«

»Ist doch auch nichts anderes als vor Erwachsenen.« Sie hält dagegen. Natürlich. Etwas anderes hätte ich auch nicht von ihr erwartet. Ich hatte ja erwähnt, dass sie Geschäftsfrau ist.

»Du hast noch neun Tage, bevor wir fahren.« Sie scheint das Gespräch beenden zu wollen. Toll. Wie schön, wenn meine Bedenken so ernst genommen werden. Vergesst, dass ich je gesagt habe, dass ich sie liebe, denn das nehme ich zurück. Sie ist eine Nervensäge.

»Lässt sich darüber reden?« Ein letzter Versuch von mir. Sie weiß, dass ich weiß, dass ich es danach gut sein lasse. Wenn sie wirklich darauf pocht, werde ich es zulassen. Ich werde mir etwas überlegen, ohne die strenge Übermutti raushängen zu lassen. Ich werde versuchen, neutral über das Thema Suizid zu reden, so wie ich es mit Erwachsenen auch kann.

Scheiße, das wächst mir doch über den Kopf.

Wieso wollte ich noch einmal Autorin sein?

»Rede mit deinem Schatz darüber, er hat doch sonst auch immer so hilfreiche Tipps.«

Ich lasse sie gehen, ohne sie darauf hinzuweisen, dass Sam nicht mein Schatz ist. Oder dass ich zu müde zum Diskutieren bin. Wie so viele Menschen lasse ich sie gehen.

Everyday at 5AM {I'm asleep}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt