#19

287 56 5
                                    

Es ist kalt in der Wohnung. Das ist mitunter mein erster Gedanke, als ich die Treppenstufen zu unserem Apartment hochkomme und bemerke, dass nicht abgeschlossen ist. Was ungewöhnlich für Sam ist, der seit jeher abschloss, während ich da nicht ganz so streng war.

»Guten Morgen«, rufe ich in die Wohnung, in Ermanglung eines besseren ersten Satzes, »ich habe Kaffee und Donuts dabei. Frühstück für Gewinner. Du weißt schon.«

Keine Reaktion. Toll. Sollte ich ausgerechnet den einen Tag erwischt haben, an dem Sam Nachtschicht hat und schläft wie ein Stein? Hat Fortuna mich schon so sehr verlassen?

Wie gewohnt laufe ich zu den Heizungen unter den Fenstern, drehe sie auf und überlege, ob ich mich meiner Jacke entledigen soll. Zugegebenermaßen bin ich die Verfrorene in der Wohnung. Sam schläft selbst im tiefsten Winter nur mit einer dünnen Bettdecke und hat auch noch nie verstanden, wie ich mit meiner Daunendecke und dem Fleece-Anzug nachts noch Luft bekomme.

Wenigstens lebe ich nicht auf einer Eisscholle, so wie er gerade.

Obwohl ich erst seit wenigen Wochen fort bin, fühlt es sich ungewohnt an, hier zu sein. Sams Sachen liegen verstreut herum, sodass ich mich eher wie ein Eindringling fühle, obgleich das meine Wohnung ist. Wobei »Sachen« ein zu großer Ausdruck für die Dinge ist, die schlichtweg nicht weggeräumt wurden. Alte Verpackungen von diversen Frühstückscerialien, Kleidungsstücke, Tassen und Schüsseln und Gläser und –

»Sollte deine Tour nicht erst mit der Buchmesse enden?«

»Verdammte Scheiße!«

Soviel zum Thema gewählte Ausdrucksweise. Doch Sam ist im Türrahmen seines Zimmers aufgetaucht, während ich noch in Gedanken vertieft war. Wie eine Katze, die sich anschleicht und dann attackiert. Wobei der Vergleich nicht so hinkt, wie angenommen. Auf seinen Wangen wuchert etwas, das man kaum noch als Bartschatten, sondern als ausgewachsenen Bartbezeichnen kann. Katze, durch und durch.

»Du hast Kaffee. Schön.« Er nimmt sich den Becher vom Esstisch und ignoriert die Tüte köstlicher Donuts von unserem Lieblingskonditor. Was nicht verwunderlich ist, wenn ich ihn mir genauer ansehe. Seine Wangenknochen stechen so sehr heraus, dass man vermutlich wirklich mit ihnen Papier zerschneiden könnte. Sehr dünnes Papier. Hauchzart. Kaum mit bloßem Auge zuerkennen, so dünn. Ich denke, es ist klar, was ich meine.

Bei Sam machen schon wenige Tage nichts essen einen riesigen Unterschied und er sieht nicht so aus, als hätte er diese Woche überhaupt feste Nahrung zu sich genommen.

»Soll ich fragen?«

Er schnaubt. »Seit wann fragst du denn überhaupt irgendetwas? Seit wann interessiert sich die große Kassandra Moon für etwas anderes als sich selbst?«

Das ist ein Tiefschlag. Das ist ...

»Du bist betrunken, nicht?«, frage ich, weil ich nicht anders kann. Er sieht so aus. Er benimmt sich so. Die vielen Wodkaflaschen auf der neuen Küchenzeile beweisen es mir.

Etwas ist mit Sam passiert. Ich bin nicht eingebildet genug, um zu behaupten, dass es etwas mit mir zu tun hat. Aber vielleicht, nur vielleicht, ja doch. Zumindest mit unserem Streit.

»Was kümmert es dich?«

Noch ein Tiefschlag. Mitten in den Magen. Heute versucht er es drauf anzulegen, das merke ich. Sam will, dass ich wütend werde, zurückkeife, ihn anschnauze. Er will verletzt werden, weil er es selbst nicht kann. Wie gut ich dieses Gefühl kenne. Deswegen werde ich nicht mitspielen. Ich werde nicht an Sams Selbstzerstörung teilhaben.

»Du kannst mit mir reden, du kannst es sein lassen. Aber du bist mir wichtig. Ich habe heute einen freien Tag, weil die vergangenen vier Wochen eine Qual waren. Du ... Ohne dich ...« Ich stocke. Gehe einen Schritt auf ihn zu. Irgendwo da drin steckt noch Sam. Mein Sam. »Wenn wir Streit haben, geht es mir miserabel. Das wollte ich aus der Welt schaffen und dich einladen, zur Buchmesse zu kommen.« Zur Untermalung meiner Worte hole ich das Fachbesucher-Ticket aus meiner Jackentasche, das ich die gesamte Zeit seit meiner Ankunft am Bahnhof fest umklammert hielt. So sieht es auch aus, leicht zerknüllt. Wie mein Herz, das sich zusammenrollt. Immer weiter.

Weil Sam nichts darauf erwidert, sondern einfach weiterhin reglos an die Wand hinter mir starrt, nehme ich meine Tasche und verlasse die Wohnung. Es ist seltsam. Ich weiß nicht einmal, was ich empfinden soll. Was ich wirklich empfinde. Trauer. Wut. Versagen?

Papa sitzt noch im Auto vor der Tür, als hätte er es riechen können, dass ich nicht lange bleibe. Vielleicht hat er das auch, so wie ich ihn kenne. Er macht sich immer zu viele Sorgen um mich und wird ab und an nach Sam geschaut haben, ohne es mir zu erzählen. Was sich bestätigt, als er nach meiner kurzen Zusammenfassung der letzten zehn Minuten nicht sonderlich überrascht ist.

»Ich sprach schon mit deiner Mutter darüber. Sie wollte ihm einen Platz in einer guten Klinik besorgen.«

Sie kennen Sam nicht so gut wie ich. Sie wissen nicht, dass er keine Klinik braucht, dass er nur ... ich weiß selbst nicht mehr, ob ich Sam kenne. In den letzten Monaten hat er sich so verändert. So viele Geheimnisse wurden aufgedeckt, soviel Unmut ist entstanden. Aber er würde niemals wieder in eine Klinik gehen, wenn das seine Chance auf Leo vernichten würde.

»Papa.«
»Hm?«

Nach wie vor stehen wir auf dem Parkplatz vor meinem Wohnhaus. Wenn ich den Kopf nach rechts drehe, aus dem Fenster schaue, sehe ich die mit Papier verhangenen Fenster des Cafés, das vor sich hin verkümmert.

»Wieso hast du das MoonHour, das echte, nicht wieder eröffnet?«

Seine Finger umfassen noch fester das Lenkrad, ich sehe die Angespanntheit seines gesamten Körpers. »Als es einmal zu war, konnte ich es nicht.«

Er hat in meiner Kindheit aufgehört, über seine Mutter zu sprechen. Vielleicht als er realisierte, dass eine neue Kassandra, dass ich, nicht das Loch füllen konnte, dass Kassandra Senior geschaffen hatte.

»Sie hat es eröffnet. Sie hat es geführt, es renovieren und umbauen lassen. Sie hat ... es war ihr Laden. Nach ihrem Tod lief es weiter, es gab keinen Bedarf etwas zu verändern. Es war nie geschlossen. Dann geschah dieser blöde Brand und es wieder zu eröffnen, hat sich falsch angefühlt. Es wäre nicht mehr ihre Wiedereröffnung gewesen. Der letzte Teil von ihr wäre fort gewesen.«

Kurz zögere ich, bevor ich antworte und eine Hand auf seine lege. »Sie bleibt tot. Das hätte nichts daran verändert. Manchmal müssen wir weitermachen, auch wenn es uns schwer fällt.«

»Gesprochen wie eine waschechte Moon.«

Doch aus irgendeinem Grund klingt das gerade nicht nach einem Kompliment.

Everyday at 5AM {I'm asleep}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt