Nachdenklich

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Mycroft hatte Gregorys Blicke auf sich gespürt.

Blicke die liebevoll waren, aber auch sorgend und fragend. Und er wusste, worum es Gregory ging.

Er kuschelte sich an seinen Freund und genoss dessen Wärme und Nähe. Es war so wunderschön, einfach nur das Zusammensein zu genießen und sich nicht um irgendetwas kümmern zu müssen. Keine Entscheidungen treffen zu müssen, für nichts verantwortlich zu sein.

Greg gab ihm mehr, so viel mehr als er sich vermutlich bewusst war.

Und doch gab es da diese eine, entscheidende Sache, die er selbst, Mycroft, Greg nicht geben konnte.

Sie hatten noch nicht miteinander geschlafen.

Er wusste, dass Gregory sich danach sehnte. Nicht, weil ihn das, was sie miteinander auch in sexueller Hinsicht teilten, nicht befriedigen würde. Sondern, weil Greg sich danach sehnte, sich mit Leib und Seele mit ihm zu vereinigen und ihm so nahe zu sein, wie es nur möglich war.

Greg würde ihn nie zu etwas drängen, wozu er noch nicht bereit war. Das war ihm klar.

Die Frage war nur: War er denn bereit?

Die Gründe, warum er sich Gregory bisher noch nicht hatte hingeben können, hatte er tief in sich vergraben gehabt und er wollte jetzt einfach nicht darüber nachdenken.

Aber er vertraute Gregory. So sehr, wie er noch nie in seinem Leben einem Menschen vertraut hatte.

Und daher war er sich sicher: er wollte es.

Er war soweit und wollte mit Gregory schlafen.

Nun, das ganze Wochenende lag vor ihnen und sie hatten Zeit. Sie konnten ruhige, schöne Stunden genießen und ja, er würde es tun. Er würde Gregory verführen.

Viel würde es nicht dazu brauchen, da war er sich sicher, denn er spürte, wie sehr Gregory ihn wollte. Also würde er sich ihn hingeben.

Er würde es können.

Ja.

Er spürte, wie Greg sanft in seinem Haar schnupperte und schmunzelte.

Das hatte Greg von Anfang an gern getan. Er mochte es, wie weich sein Haar war im Gegensatz zu seinen eigenen widerspenstigen, drahtigen Strubbeln. Er, Mycroft, hingegen mochte das silbergraue Haar seines Freundes, das sich manchmal nur schwer bändigen ließ.

Er schloss die Augen und genoss, wie Gregory sein Gesicht in sein Haar schmiegte. Diese Zärtlichkeit zwischen ihnen beiden brachte ihn immer wieder zum Atem anhalten und Staunen. Bevor er Greg hatte, hätte er sich nie vorstellen können, wie schön das war. Diese Zärtlichkeiten waren nicht nur körperlich, sie waren seelisch, sie gingen so tief, weil er und Greg sich so nahe waren. Es war manchmal regelrecht schwer für ihn, zu glauben, dass ihm, dem nach außen hin so eiskalten Mycroft, etwas so wunderbares widerfuhr.

Manchmal dachte er, das alles gar nicht verdient zu haben. Doch wenn ihn solche Zweifel packten, dann genügte ein Blick in Gregs Augen, und er sah das Leuchten dort.

Diese Augen, diese wunderbaren kaffeebraunen Augen ...

Mycroft seufzte und schmunzelte über sich selbst.

Ihm war klar, dass er sich in Gedanken gerade anhören musste wie ein verknallter Teenager. Aber was solls, warum auch nicht. Schließlich war er ja bis über beide Ohren verliebt und warum sollte er das verstecken, nur weil er die Vierzig längst überschritten hatte?

Nun ja, außerhalb der eigenen vier Wände würde ihn niemand so erleben, das war klar. Aber Greg gegenüber gab es nichts, was er verstecken musste oder wollte. Er liebte Greg aus tiefster Seele, alles in ihm, und das wollte er ihm auch deutlich zeigen.

Und deswegen würde es an diesem Wochenende soweit sein.

Ja.

Er würde es nicht zulassen, dass seine Vergangenheit die Beziehung mit Greg beeinträchtigte. Dafür war ihm das, was sie jetzt hatten, zu wertvoll.

Erneut musste er schmunzeln.

Wer hätte gedacht, dass das daraus werden würde, als vor ungefähr einem Jahr Sherlock in sein Büro gestürmt war und nach dem Austausch von irgendwelchen belanglosen Sachen, die nur als Vorwand dienten, ihn mit der Nase drauf gestoßen hatte, dass Gregory Lestrade ihn mochte, so wie er Greg mochte?

Er musste seinem Bruder wohl wirklich dankbar sein, denn der hatte es letztendlich in Gang gebracht, dass er und Greg nun hier auf dem Sofa kuschelten, ihn ihrem gemeinsamen Haus und mit festen Plänen, den Rest ihres Lebens als Paar zu verbringen. Vielleicht sogar früher oder später als Ehepaar?

Gesprochen hatten sie auch darüber schon. Doch den Schritt wollte er Greg überlassen, der hatte ihn darum gebeten.

Mycroft hätte jederzeit „Ja!" gesagt.

Andererseits wäre das sicher nicht richtig, wenn nicht alles zwischen ihnen stimmte ...

Nun, es stimmte ja alles. Nur ... sie hatten eben noch nicht miteinander geschlafen.

Und das würde nun endlich passieren, dieses Wochenende, und dann, ja, wer weiß, vielleicht würde Greg ihm dann einen Antrag machen.

Ihm war schon klar, dass Greg es nicht davon abhängig machen würde. Greg musste für einen Antrag den für ihn richtigen Zeitpunkt finden, und das würde er auch.

Doch er, Mycroft, machte es irgendwie davon abhängig. Er würde Ja sagen wollen, doch das würde er nicht können, nicht fertig bringen, wenn noch diese letzte Sache zwischen Ihnen stand.

Und deswegen, dachte er, Augen zu und durch.

Und er merkte nicht, wie falsch das klang, „Augen zu und durch", für die schönste Sache der Welt, die man doch eigentlich freudig genießen sollte...

Ach was, er wollte es.

Ja.

Er war sich sicher.

Ja klar!

(Und er hatte Bauchschmerzen bei dem Gedanken an die ganze Sache, doch das war etwas, was er nicht recht vor sich selber zugeben wollte.)

BauchschmerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt