Eindringlich

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Mycroft lag auf dem Bett in Johns altem Zimmer und schlief nicht. Er war erschöpft, ja, aber er würde jetzt kein Augen zu bekommen. Nicht jetzt, wo er nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Was würde Gregory von all dem halten? Mitten beim Sex einfach weglaufen; dann nicht mal sagen, was los ist, ihn zurücklassen und einfach stehen lassen. Im Ungewissen lassen, einfach so. Da wäre es kein Wunder, wenn Gregory nie wieder mit ihm reden würde.

Er lauschte, als er unten die Tür klappen hörte. Johns Stimme. Und noch eine ... Gregory! Gregory war hier! Oh Gott.

Und was jetzt?

Er holte Luft und setzte sich auf. Dann spitzte er die Ohren. Die beiden dort unten sprachen miteinander, er hörte Tassen klappern. Er versuchte angestrengt, zu verstehen, worüber John und Greg redeten, bis ihm klar wurde, welch albernes Kindergartenverhalten er hier gerade an den Tag legte.

Also stand er auf, straffte sich, öffnete die Tür und schritt erhobenen Hauptes die Treppe hinunter.

Seine ganze Erhabenheit fiel einfach in sich zusammen, als Gregory, kaum dass er seiner ansichtig wurde, aufsprang, auf ihn zu gestürmt kam und ihn einfach an sich riss. Ihn in eine feste Umarmung zog und ganz fest an sich drückte.

„Mycroft!", sagte Greg, und man hörte, dass ihm das Sprechen schwer fiel. „Du kannst doch nicht einfach so verschwinden! Ich mach mir doch Sorgen um dich!"

Er wollte antworten, doch es ging nicht. Er schluckte und spürte, dass seine Augen brannten.

Eine Weile standen sie so, bis John sich räusperte und sagte:

„Ich will euch ja nicht in eurer Zweisamkeit stören, aber ... wollte ihr euch nicht setzen?"

Verlegen lösten sich die beiden voneinander und setzten sich zu John an den kleinen Teetisch.

John schenkte nun auch Mycroft eine Tasse Earl Grey ein und sagte dann:

„So ihr zwei. Egal was es ist, ihr solltet darüber reden. Ich habe da einiges an Erfahrung. Ich habe immerhin einen liebenswerten, aber völlig verrückten Detektiv an der Backe, und glaubt mir, wenn ich in der Zeit mit ihm eines gelernt habe, dann, dass man alles irgendwie auf die Reihe kriegen kann, wenn man ehrlich ist und den Mund aufmacht. Das hat inzwischen sogar Sherlock begriffen. Das ist nicht immer einfach, das weiß ich. Ihr könnt mir glauben, hier in diesen Räumen sind schon mehr Blut, Schweiß und Tränen geflossen, als ihr euch vorstellen könnt."

„Um ehrlich zu sein, das möchte ich mir auch gar nicht so genau vorstellen", knurrte Greg.

John lachte.

„Wie auch immer, redet. Und wenn ihr euch dann hinterher die Augen auskratzen wollt oder euch gegenseitig für die größten Idioten unter Gottes Himmel haltet, dann wisst ihr wenigstens, wieso. Damit kann man arbeiten."

Er schaute von einem zum anderen.

„Wollt ihr mich dabei haben, oder soll ich mal lieber nach der guten Mrs. Hudson schauen?"

Greg räusperte sich.

„Ich weiß nicht ... es geht ... gewissermaßen ... um Sex."

John errötete schlagartig.

John war kein Kind von Traurigkeit. Eine ganze Anzahl von Frauen hatte in seinem Leben schon mit ihm die Laken geteilt und in der Zeit bei der Armee auch der ein oder andere Mann. Seit mehreren Jahren lebte er mit Sherlock zusammen, und es war jedem klar, dass die beiden inzwischen Verlobten nicht nur Händchen hielten wie des Pfarrers Töchter beim Sonntagskirchgang.

Zum einen, weil Sherlock zu Johns Missfallen damit in keinster Weise hinterm Berg hielt. Und zum anderen weil es nun mal die natürlichste Sache der Welt ist, dass ein verliebtes Paar auch Sex hat.

Dennoch war John sofort ein einziges Bündel Verlegenheit, wenn jemand sich anschickte, über so etwas zu sprechen.

Er liebte Sex, aber er redete nicht gerne darüber. Nun, außer mit Sherlock, aber das war etwas anderes.

Jedenfalls stand er auf mit knallroten Ohren und sagte:

„Ich glaube, Mrs. Hudson hätte sicher Lust auf ein wenig Geplauder."

Und bevor er die Tür zur Treppe hinter sich schloss, sagte er:

„Bedient euch beim Tee und den Keksen, ja?"

Und schon war er verschwunden.

Greg schaute etwas schüchtern zu Mycroft. Eine Weile sagten sie kein Wort. Schließlich nahm Greg Mycrofts Hand in seine und begann, sanft mit seinem Daumen darüber zu streicheln.

Mycroft entspannte sich. Diese kleine, so zärtliche Geste machte ihm bewusst, das Greg für ihn da war und bei ihm sein wollte.

„Ich ..." Greg setze an, aber er blieb im Satz stecken.

Er räusperte sich und begann erneut.

„Es tut mir Leid, Myke, dass ich zu unsensibel war und nicht gemerkt habe, dass es dir nicht gut geht."

„Nein, Gregory, mir tut es leid, dass ich mich mir nicht hingeben konnte."

Wieder schwiegen sie.

Schließlich sagte Greg:

„Zum Teufel noch mal. Wir sind einfach Idioten, wir beide. Du hast dich mir nicht hingeben können, warum auch immer, in diesem Moment. Ich habe nicht rechtzeitig gespürt, dass es einfach nicht der richtige Augenblick war. Wir haben es beide falsch gemacht. Aber das ist nicht schlimm, denn wir lernen aneinander, ja?"

Mycroft nickte.

„Und wir machen es beim nächsten mal besser, ja?"

Wieder nickte er.

„Und jetzt, mein Lieber, sagst du mir, was eigentlich los war, okay?"

Mycroft schwieg. Es war nicht so einfach.

Greg rollte mit den Augen.

„Mycroft, verstehe mich nicht falsch. Ich liebe dich. Und wenn es mit dem Sex auf diese Weise nicht geht, dann ist das okay. Ich liebe dich deswegen nicht ein Jota weniger. Aber ..."

Er schaute Mycroft eindringlich in die Augen.

„ ... ich spüre, dass es da etwas gibt, was dich belastet. Und ich möchte dir zur Seite stehen. Ich bin dein Lebensgefährte, und wenn es Dinge gibt, die dir Kummer machen, möchte ich sie wissen, damit ich dir helfen kann. Vor allem, wenn sie uns ja nun auch beide betreffen."

Mycroft seufzte.

Greg hatte ja recht.

Also holte er Luft und begann, stockend zu erzählen.

BauchschmerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt