Unglücklich

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„Wie du vielleicht weißt", sagte er, „habe ich lange Zeit keinerlei Beziehung gepflegt. Ich hatte einige, nun, nennen wir es kurzfristige Zusammentreffen, denn ich bin ein Mann mit Bedürfnissen ..."

Greg nickte verstehend.

„Aber eine Beziehung war nicht dabei. Ich wollte niemanden an mich heranlassen. Sherlock hat mit seinen Behauptungen nicht unrecht: Liebe ist nicht viel mehr als ein chemischer Defekt und Menschen, die man mag, können Schwachpunkte sein, an denen man angreifbar ist. Ein Mensch mit Macht und Einfluss, so wie ich..."

Greg schaute ihn erschrocken und verletzt an.

Also beeilte sich Mycroft, fortzufahren:

„Dann jedoch habe ich durch dich gelernt, dass all die Schwierigkeiten, die eine feste Liebesbeziehung bedeutet, nichts sind im Vergleich zu dem, was sie einem geben kann. Durch dich habe ich nach vielen vielen Jahren zum ersten Mal wieder gespürt, was Geborgenheit und Wärme bedeutet. Und wenn das ganze eben ein Defekt ist, dann ist es einer, den ich gerne habe. Und die Risiken, die es mit sich bringt, nehme ich gerne in Kauf."

Er strich sanft mit seiner Hand über Gregorys Wange.

„Aber, Gregory, du bist nicht der erste Mann, der mein Herz erobert hat. Du bist der letzte, denn ich möchte mein Leben bis zum Ende mit dir verbringen. Aber ... als ich jung war, gab es schon einmal jemanden, den ich geliebt habe. Und er hat mir ..."

Mycroft schluckte.

„Myke", sagte Greg leise, „Wenn es zu schwer für dich ist, dann musst du nicht..."

„Doch, Greg. Ich will darüber reden. Ich spüre, dass ich es loswerden möchte. Ich will es mir von der Seele reden. Und jetzt habe ich einmal den Mut dazu gefunden. Also lass es mich tun, ja?"

Greg nickte.

„Okay. Ich höre dir zu. Ich bin für dich da."

„Also. Er hieß Maurice und war ein paar Jahre älter als ich. Ich war gerade zwanzig und am Anfang meiner Karriere. Ich habe ihn geliebt. Er dagegen ... nun, heute denke ich eher, er hat sich mit mir geschmückt. Immerhin kam ich aus reicher Familie und war auf dem besten Wege, eine glänzende Karriere auf dem diplomatischen Parkett einzuschlagen ... ich war also in seinen Augen ein Freund, mit dem man durchaus angeben konnte."

Mycroft schluckte.

„Er behauptete, mich zu lieben, aber ... aus heutiger Sicht weiß ich, dass das nicht stimmt. Er zeigte keinen Respekt vor mir. Er verspottete mich wegen meines Aussehens..."

„Was?", Gregory verstand nicht. Er hatte Bilder von Mycroft aus jüngeren Jahren gesehen, der damals schon schlank und elegant gewesen war.

„Na ja", sagte Mycroft und errötete. „Meine roten Haare. Meine Sommersprossen. Meine komische Nase."

„Blödsinn", motzte Greg. „Der Typ muss blind gewesen sein."

Myke zuckte mit den Schultern.

„Er dagegen sah einfach toll aus. Er war, nun, männlich schön. Das trifft es."

Greg beugte sich vor und küsste Mycroft sanft auf die Stirn. „Du bist schön", sagte er, „und jeder der etwas anderes behauptet, bekommt es mit mir zu tun."

Mycroft lief ein angenehmer Schauer über den Rücken.

„Nun", sagte Mycroft und Gregory spürte, wie er ein wenig zitterte. „Eines Tages kam ich etwas früher als sonst nach Hause und erwischte ihn mit einem gemeinsamen 'Freund' im Bett. Ich war erschüttert, meine Welt schien zusammenzubrechen."

Greg nickte. Herrgott, das verstand er nur zu gut. Mehr als einmal hatte er seine Frau in einer ähnlichen Situation angetroffen. In ihrem eigenen Ehebett. Er verabscheute solche Untreue zutiefst. Sein Gesicht verfinsterte sich, wenn er daran dachte, das Mycroft offensichtlich ähnliches durchgemacht hatte.

„Ich stellte ihn zur Rede", sagte Mycroft, „doch er verspottete mich nur. Ob ich zusehen wolle, fragte er mich. Damit ich endlich lernen würde, wie das geht. Wir hatten nämlich ..." Er schluckte. „ ... zu diesem Zeitpunkt noch nicht ... miteinander ..."

Einige Augenblicke schwieg Mycroft.

Dann fuhr er fort.

„Ich war entsetzt und empört und unglücklich. Und doch habe ich mich dafür geschämt, dass er sich seine Bedürfnisse anderswo stillen musste, weil ich nicht in der Lage war ..."

Er flüsterte nun.

„Ich war einfach noch nicht bereit, weißt du?"

Greg schauderte. Dieser Maurice dürfte ihm nicht unter die Finger kommen.

„Ich habe dann am gleichen Abend, als er mich drängte, zugestimmt. Eigentlich wollte ich noch warten. Ich war eben schüchtern was diese Dinge betraf, du weißt ja selber, dass es auch heute noch so ist – der Mycroft den alle Welt kennt ist ein anderer als der Mycroft, der ich bei dir zu Hause bin. Ganz privat. Und das war auch damals schon so."

Ein tiefes Luftholen.

„Ich habe zugestimmt – doch als es dann so weit war, konnte ich es nicht. Ich wollte nicht. Ich wollte noch warten. Doch dann ..."

Mycroft zitterte erneut. Greg legte seinen Arme um ihn und hielt ihn fest.

„Er hat mich gedrängt, und als ich es abbrechen wollte, hat er mich ..."

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„Er hat mich gezwungen, Gregory. Er war stärker als ich und schaffte es, mich einzuschüchtern. Und so hatte ich ihm nichts entgegenzusetzen. Er hat mich gezwungen und es war ..."

„Ssscchhh, schon gut. Ich verstehe ..."

Greg hielt ihn.

Hielt ihn einfach nur.

Mycroft war dankbar dafür, dass Greg einfach da war und ihn nicht ausfragte, sondern ihn so erzählen ließ, wie er es eben fertigbrachte.

Und dass er ihn hielt.

Ein bisschen hatte er befürchtet, so dumm das auch war, dass Greg vor ihm zurückscheuen würde.

Aber Greg hielt ihn einfach nur.

Und langsam, ganz langsam, konnte Mycroft ein wenig entspannen.

BauchschmerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt