KAPITEL 15

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L U K E

Mein Spiegelbild blickte mir blass entgegen, am liebsten hätte ich das Glas zerschlagen.

Die sonst so strahlendblauen Augen gaben einen matten Schein von sich, während die dunklen Ringe darunter in einem lilanen Ton schimmerten. Der schwarze Anzug ließ mich noch bleicher wirken und ich dachte darüber nach, wie Benny wohl in so einer Situation gehandelt hätte.

Bei den ständigen Gedanken an meinen Bruder, stiegen mir andauernd erneut Tränen in die Augen, welche ich nur schwer zurückhalten konnte.

Wäre Jimmy nicht schon tot gewesen, hätte ich ihn mit bloßen Händen, für das was er angerichtet hatte, umgebracht.

Ihn zuerst gefoltert und dann qualvoll und langsam umgebracht. In meinem Inneren loderte der Hass gegen diesen Menschen so sehr auf, dass er selbst die Trauer um meinen Bruder übertrumpfte.

Es waren genau drei Tage vergangen.

Drei Tage, in denen ich mich völlig in mir selbst verschlossen hatte.

Drei Tage, in denen ich Liz und auch alle anderen ignoriert hatte.

Drei Tage, in denen die Schuldgefühle beinahe unerträglich geworden wären.

Drei qualvolle Tage.

Ich machte mir Vorwürfe, schlimme Vorwürfe; vielleicht hätte ich ihn retten können.

Alles was geschehen war, war vollkommen meine Schuld gewesen; ich hätte auf der Stelle die Polizei oder meine Eltern einschalten müssen. Diese hatten seit seinem Tod kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt; ich konnte es irgendwie nachvollziehen.

In unserer Wohnung herrschte Chaos, und das, seit Jimmy und die beiden anderen Kerle bei uns eingebrochen waren. Mum und Dad hatten beschlossen die Wohnung zu verkaufen und vielleicht in eine ihrer Meinung nach etwas sichere Gegend zu ziehen.

Ich fragte mich bis heute, warum sie nichts gegen die furchteinflösenden Kerle unternommen hatten, als die Wohnung gestürmt wurde.

Es war fast so, als hätte ihnen Bennys Verschwinden kaum etwas ausgemacht.

Wahrscheinlich hatten sie es zuerst nicht einmal bemerkt, sondern erst als ich die Vermisstenmeldung aufgegeben hatte.

Mit der Hand werkelte ich fast eine halbe Stunde an der schwarzen Krawatte herum, bis sie schlussendlich perfekt saß.

Ein letztes Mal betrachtete ich mich im Spiegel, ich tat dies alles nur ür meinen kleinen Bruder; um ihm sozusagen die letzte Ehre zu erweisen. Das war der Gedanke der mich aufrecht erhielt, ich war mir ziemlich sicher dass ich nach diesem Tag einen totalen Zusammenbruch erleiden würde.

Tief durchatmend schritt ich über die Schwelle, ging geradeaus, bis ich in meinem und Bennys noch halbwegs ordentlichem Zimmer stand.

Mein Blick glitt über die Regale, auf denen sich massenweise Basketballtrophäen, CDs, Videospiele und andere Dinge stapelten.

Die Atmosphäre war noch immer dieselbe, es kam mir so vor, als würde er gleich durch die Tür treten und mir von seinem neusten Basketballspiel erzählen. Seufzend strich ich über ein paar CDs, bis mein Finger an einer stehenblieb, die ein kleines bisschen nach draußen lugte.

Ohne groß nachzudenken zog ich sie heraus, meine Augen scannten das Cover.

Forever Young von Alphaville; das Lieblingslied meines Bruders.

Obwohl es schon ein wenig älter war und keineswegs in seine Generation passte, war er vernarrt in den Songtext, die Melodie, die Stimme von Marian Gold; um genau zu sein einfach in alles, was mit diesem Song zu tun hatte.

Eine Erinnerung durchflutete meine Gehirnzellen.

Es handelte sich um den Tag, an dem er mir die gekaufte Single zum ersten Mal präsentiert hatte. Wie stolz war mein kleiner Bruder auf seine allererste CD gewesen, die ganze Zeit über wenn wir Besuch hatten, rieb er jedem diese kleine Verpackung unter die Nase und bestand darauf, mindestens einmal das Lied anzuhören.

Meine Finger schlossen sich fester um die Hülle, meine Schläfen begannen zu pochen; ebenso das Blut, welches durch meine Adern floss.

»Du schaffst das schon«, versuchte ich mir Mut zuzusprechen und verließ das Zimmer, um mich auf den Weg in die Aussegnungshalle zu machen.

Und dabei wusste ich ganz genau, dass ich es nicht fertig bringen würde, meinen Bruder loszulassen.

Der große braunhaarige Junge betrat die Halle und begutachtete sämtliche Details, die sich in dem Raum befanden, ehe er in der ersten Reihe Platz nahm.

Die Bänke waren mit kleinen Blumensträußen verziert worden, ganz nach seiner Vorstellung.

Die Wände strahlten in einem noch helleren weiß als sonst und die Fenster die aus Buntglas bestanden, schimmerten aufgrund der Sonne in allen möglichen Farben.

Es war fast so, als würde sein Bruder für ihn scheinen.

Die meisten Menschen kannte er nicht wirklich, obwohl sie anscheinend seinen Bruder gekannt hatten. Er wollte sie nicht bitten zu gehen, weil jeder der diesen wundervollen Menschen gekannt hatte, das Recht zu trauern besaß.

Dicht neben ihm ließ sich eine weitere Person nieder, er wollte gerade höflich sagen, dass er am liebsten für sich alleine sitzen würde, als die unschuldigen blauen Augen auf seine trafen.

Das Gesicht umrahmt von goldenen Locken, die Lippen zu einem traurigen Lächeln verzogen; das Kleid schwarz wie die Nacht höchstpersönlich.

Elizabeths Hand berührte die Seine und zeichnete ein paar Muster auf die geschmeidige Haut.

Sämtliche Stellen seines Körpers wurden von einer Gänsehaut überzogen, während die sanften Finger sich auf einmal mit seinen verflochten. Das Blut pumpte durch seine Adern, sein Herzschlag verschnellerte sich trotz des Anlasses ein wenig. Zuerst verharrte er in seiner Position, doch dann wandte er sich an das wunderschöne Mädchen.

»Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

Die Stimme hatte einen seltsamen Klang; rau und verletzlich. Es war das erste Mal seit den letzten Tagen, dass er mit Elizabeth sprach.

»Das ist das mindeste was ich tun konnte«, kam die leise Antwort wenige Sekunden später.

Weiter konnten die Beiden ihr Gespräch nicht führen, da der Pfarrer angekommen war, bereit dazu, die Aussegnung zu beginnen.

Das Holz des Sarges glänzte frisch, das Bild von seinem Bruder daneben trieb einigen Personen die Tränen in die Augen.

Elizabeths Hand hatte sich noch immer nicht von Lukes gelöst, sie wollten sich gegenseitig die fehlende Kraft schenken; sich ergänzen.

Als alle Anwesenden zu einem Gebet aufstehen mussten, fühlte es sich für Luke so an, dass ihm der Boden unter seinen Füßen genommen werden würde. In dem Moment, in dem der Pfarrer zu sprechen begann, setzte im Hintergrund leise Forever Young ein.

Erst jetzt wurde dem Jungen klar, dass es sich um das Abschlussgebet handelte. Lukes Beine schienen sein Gewicht nicht länger tragen zu können, weswegen er sich wieder auf der Bank niederließ.

Elizabeth blickte auf ihn herunter, die Tränen bahnten sich ihre eigenen Wege aus seinen Augenwinkeln; sie musste sich bemühen nicht selbst mit dem Weinen zu beginnen; wollte für beide stark sein.

Die zierliche Person setzte sich langsam ebenfalls auf die Bank zurück, um den weinenden Jungen zu trösten. Sie wusste, dass der kleine Bruder sein ein und alles gewesen war; sie wusste aber auch, dass Benny sie für seinen Platz auserwählt hatte.

Innerlich wussten die beiden aber, dass Benny für immer in ihrem Herzen weiter existieren würde; der Himmel hatte eben einen weiteren Schutzengel gebraucht.

Ihre Hand strich über Lukes Rücken, während aus ihrem Mund beruhigende Worte kamen.

»Es wird alles wieder gut werden. Ich werde immer für dich da sein, das verspreche ich dir.«

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