Kapitel 12 | Schusswechsel

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"Ist das dein Ernst?"
"Was meinst du?"
"Du schminkst dich?"
Gabriel saß im Schneidersitz auf seinem Drehstuhl, dem eine Armlehne fehlte, und beugte sich über den Schreibtisch zum Spiegel. 
Jax stand mit verschränkten Armen hinter ihm und zog die Stirn in Falten. 
Er wusste ja, dass es Kerle gab, die sowas mochten. Doch getroffen hatte er bisher noch keinen von ihnen.

In Jax Vorstellungen gab es nicht sehr viel Platz für alles was anders war, da er eine eher strenge Erziehung genossen hatte. Sein Vater John und seine Mutter Gemma waren immer sehr dahinter, dass sich ihr Sohn zu einem starken, selbstbewussten Mann entwickelte, der sich später um den Motorradclub kümmern konnte.
Es waren ihm also kaum Möglichkeiten geblieben, aus der Rolle des männlichen Bikers auszubrechen.

Bereits in jüngsten Jahren, da war er gerade mal sieben oder acht, schleppte sein Vater ihn mit in die Werkstatt. Er wuchs zwischen Autoteilen, Schweißgeräten und Zigarettenschachteln auf, lernte, wie man Motorräder und Kleinwagen reparierte und wie man mit einer echten Schusswaffe umging. Mit Ölflecken auf der Kleidung und Schmauchspuren an den Händen ging er in die Schule, wo er sich mehr um die Mädchen kümmerte, als die Quadratwurzel aus Siebenundvierzig auswendig zu lernen. 

Nur wenige Tage nach seinem fünfzehnten Geburtstag, Jax hatte seine erste eigene Waffe geschenkt bekommen, starb sein Vater. Ein Mann, der Jax absolutes Vorbild war, der ihn immer in dem bestärkte, wo seine Interessen lagen und der sich immer für ihn einsetzte. Doch noch bevor seine Trauer um seinen Dad ihn auf die falsche Bahn warf, schafften es der Club und Jax' Mutter Gemma, ihm eine Aufgabe zu geben. Jax wurde der bisher jüngste Prospect in der Geschichte der Sons of Anarchy. Von diesem Tag an hatte er kaum noch Zeit, sich über irgendwelche Teenager Probleme den Kopf zu zerbrechen, denn Clay Morrow und die Anderen gaben ihm eine menge Verantwortung und Vertrauen mit auf den Weg. 
Nicht nur, dass Jax Teller der jüngste Anwärter in der Geschichte der Sons war, er schaffte es tatsächlich nach einem Jahr mit eindeutigem Votum der Abstimmenden zum vollwertigen Mitglied. Die Feier seines Einstiegs würde er wohl nie vergessen. 
Ein sechzehnjähriger Blondschopf, der stolz grinsend seine eigene Kutte entgegen nahm und sich auf den bevorstehenden Tattoo-Termin freute. Diese Fete ging in die Geschichte des Clubs ein. Noch viele Wochen danach erzählte man sich im Ort die Geschichte, wie ein Mitglied des Clubs aus Versehen eine Nachbarskatze mit einem Feuerwerkskörper in Brand setzte und die Feierwütigen einen Teenager anfeuerten, ein halbes Fass Bier zu trinken. 

Ein Schmunzeln lag ihm auf dem Gesicht, als er so darüber nachdachte. Ja, an diese Feier würde er sich immer erinnern. Zumal er in dieser Nacht nicht nur von den Sons als Mann gefeiert wurde, sondern auch von gleich zwei hübschen siebzehnjährigen...

"Warum grinst du denn so?", fragte Gabriel neugierig, der ihn über den Spiegel beobachtet hatte. Er zog sich mit einem schwarzen Kajal eine Linie um die Augen und verschmierte sie mit dem Finger ein wenig. 
Jax blinzelte ein paar Mal und fand wieder den Weg zurück in die Gegenwart. 
"Huh?"
Er schaute zu Gabriel und zog die Stirn erneut in Falten. 
"Ach nix. Mach du mal fertig, ich warte draußen..."
Mit einer frischen Zigarette zwischen den Lippen bahnte er sich den Weg aus dem Zimmer und verschwand. 
Gabriel ließ seufzend den Kajal sinken und schaute ihm nach. Einen Moment lang, saß er einfach nur so da und versank selbst in kurzes Grübeln.
Ein jäher Schrei und wilde Gitarrenklänge rissen ihn aus seiner Starre. 
"Mein Handy!"
Hastig rutschte er vom Stuhl und warf sich auf seine Matratze, auf der das kreischende Telefon stark vibrierte. 

"Hey Bae!", rief er in den Hörer, als er den eingehenden Anruf annahm. 
>Hey Gabriel, endlich krieg ich dich mal ran! WO zum TEUFEL steckst du?? Du gehst nicht an dein Handy, du antwortest nicht auf meine Nachrichten, du ließt nicht mal meine Whatsapp!<
"Tut mir leid Viccy, ich wurde gekidnappt", stöhnte er, während er sich auf den Rücken drehte. Jetzt wo er es aussprach, klang es sehr viel lächerlicher, als es sich angefühlt hatte. Gabriel verzog das Gesicht, als ihm erneut der Schmerz durch den Körper fuhr. 
>Erzähl keinen Scheiß, hast du dich wieder von so nem Indianer abschleppen lassen oder was?<
"Nael war kein Indianer du Kuh. Außerdem meine ich das ernst.", seine Stimme wurde etwas unruhig. 
"Ich war vorgestern allein im Maestro und wurde von so einem komischen Typen im Hemd angemacht. Der Wichser hat mir irgendwas ins Glas getan, ich weiß gar nichts mehr... Nur, dass ich in einer Hütte im Charming Forest wieder aufgewacht bin."
Bilder flackerten ihm vor den Augen und ihm wurde übel. 
>Scheiße, Gabriel...<
Victoria schien es für einen Moment die Sprache verschlagen zu haben, denn es herrschte nun Stille am anderen Ende der Leitung. Gabriel hingegen versuchte, sich von seinen Gedanken nicht einnehmen zu lassen und lachte deshalb kurz. Sein Lachen klang so verkorkst, dass man meinen könnte, er hätte sich an etwas verschluckt. 
"Ist... ist schon okay", er schluckte den walnussgroßen Kloß runter, der sich in seinem Hals bildete und setzte sich auf. Um sich abzulenken, klemmte er das Telefon zwischen Ohr und Schulter und setzte sich wieder vor den Spiegel. 
>Und wie geht es dir jetzt...? Wie bist du da raus gekommen...? Und wo bist du?<, Viccys Stimme klang ein wenig verunsichert und zögerlich. 
Mit einem tiefen Seufzen drückte Gabriel auf die Lautsprechertaste und widmete sich wieder seinem schwarzhaarigen Gegenüber. 
"Ich weiß nicht genau, was der mit mir gemacht hat", log er 
"Aber ich seh' echt aus wie aus nem Horrorfilm. So kurz bevor die das Opfer in den Fluss schmeißen oder so"
Victoria schien das nicht lustig zu finden.
>Gabriel!<
"Ja, ist doch so...", sein Blick blieb immer wieder an den Blutergüssen hängen, die seine Handgelenke zierten. "Naja, das Beste kommt noch..."
>Was denn??<
"Mein Dad hat sich an die Sons of Anarchy gewendet, um mich da rauszuholen", er konnte es selbst kaum glauben, doch der lebende Beweis wartete mit einer Zigarette im Mund vor seiner Haustüre. 
Victoria schnappte etwas theatralisch nach Luft. 
>Ist das dein Ernst??? Das sind doch diese heißen Typen, die immer auf Harleys durch die Gegend fahren? Und die haben dich gerettet?<
Gabriel rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken.
"Ja-", sagte er etwas lauter, damit Viccy ihn noch verstehen konnte, "Naja, so heiß sind die gar nicht. Die sind irgendwie gruselig."
>Oh. Dann hast du noch nicht alle kennen gelernt. Die tragen doch so Clubwesten, oder? Mir ist neulich mal einer im Supermarkt begegnet. So ein älterer mit langen Haaren und Bart, der war ja sowas von HOT<

the Anarchy of the HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt