Kapitel 21 | Verloren

220 9 3
                                    

Gabriel starrte erst eine Weile auf das Smartphone in seiner Hand, bevor er realisieren konnte, was gerade passiert war.
War es tatsächlich Emma gewesen, die ihn wegen seines Vaters anrief und ihn anflehte, ins Krankenhaus zu kommen?
Und warum war Peter überhaupt in einer solchen Lage?

Zähneknirschend schob er das Handy in die Hosentasche und schaute in den Spiegel. Emma hatte ihn gerade dabei gestört, sich zu richten. 
Während er sich also wieder seinem Äußeren widmete, ging ihm die Besorgnis in der Stimme seiner Stiefmutter einfach nicht aus dem Kopf. 
Es musste tatsächlich schlimm sein, sonst wäre diese eiskalte Frau nicht so aufgelöst gewesen. 
So hatte er sie noch nie erlebt. 
Gabriel kaute sich auf der Lippe herum, während er mit viel Haarspray die wilden Haare fixierte. 
Allein dies dauerte schon einige Minuten, während denen das unbehagliche Gefühl in seiner Magengegend zunehmend stärker wurde. 
>Er ist doch immer noch dein Vater<
Emma's Worte hallten in seinem Kopf wider. 
Laut seufzend warf er die Haarspraydose zurück in seine Tasche und schaute mit ernster Miene in den Spiegel. 
"Was solls. Gehen wir eben Pap's besuchen"
Er klang ein wenig bitter, als er das zu sich selbst sagte. 

Als Gabriel frisch geduscht den großen Clubraum betrat, bemerkte er schnell, dass hier jemand durchgefegt haben musste. 
Die Stühle und Tische standen wieder an ihrem Fleck, der Kerl, der es sich mit der Halbnackten auf einem der Billiard-Tische gemütlich gemacht hatte, war ebenfalls verschwunden und das geöffnete Tor nach draußen brachte frische Mittagsluft in die Stickigen Ecken. 
Doch außer Gabriel war im Moment niemand hier. 
>Er ist doch immer noch dein Vater<
Gabriel schüttelte sich, in der Hoffnung, Emma's Stimme würde aus seinem Kopf verschwinden. 
Doch dem war nicht so. Um so länger er brauchte, sich endlich auf den Weg zu machen, desto schuldiger fühlte er sich. 
Zweifel nagten an ihm. 
Was, wenn er gar nichts dafür konnte, dass Gabriel all dieser Mist zugestoßen war?
Was, wenn all das ein großes Missverständnis gewesen war?
Wenn er einfach nur Pech gehabt hatte?

Aber was sollte dann die Sache mit den Sons of Anarchy und Jax?
Und warum war es Jax, der auf ihn aufpassen sollte...?
Er musste eine ganze Weile zwischen der Bar und der Sitzecke gestanden haben, als ihn ein Räuspern aus seinen Gedanken schleuderte. 
Ein wenig erschrocken hob er den Kopf und schaute zur offenen Flügeltür, die hinaus in den Hof führte. 
Gemma stand dort und musterte ihn. 
Sie hatte die schlanken Arme verschränkt und den Mund zu einem schmalen Strich gepresst. 
So schaute sie immer drein, wenn ihr irgendwas seltsam vorkam. 

Gabriel machte einen Schritt auf sie zu und schaute in ihre tiefblauen Augen. 
Es waren die Gleichen wie die von Jax.
Gemma hob das Kinn ein wenig an und schaute so auf Gabriel hinab, dass er das Gefühl bekam, er hätte irgendwas angestellt. 
"...Was ist?", fragte er vorsichtig, in der Hoffnung er habe wirklich nichts schlimmes angestellt. Immerhin konnte er sich nicht an jedes Detail des letzten Abends erinnern. 

Gemma nickte in Richtung Sitzecke und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Gabriel gehorchte wortlos, denn diese Frau hatte eine so einnehmende Aura, dass er es nicht wagte, ihr zu widersprechen. Bei solch einer Frau konnte das drastische Folgen haben. 
Während sie sich setzten und einen Moment lang schwiegen, spürte der Junge allmählich einen Kloß in seinem Hals. 
Sollte er etwas angestellt haben, hoffte er, dass sie bald damit rausrückte. Denn all zu lange würde er ihrem durchdringenden Blick nicht mehr stand halten können. 

"Also, Gabriel", begann sie und nun wusste er, dass er irgendwas faul war. Er war sich nur absolut nicht sicher was.
Sie erkannte die Fragezeichen in seinen Augen sofort, genoss es jedoch, ihn ein wenig auf die Folter zu spannen, in dem sie eine kleine Kunstpause einlegte. 
"Weißt du, einen jungen Mann wie dich in diesem Clubhaus zu haben ist für uns Alle ein wenig... ich will es nicht Anders nennen, aber es ist eben Anders."
Gabriel starrte sie verwirrt an. 
"Die Sons of Anarchy und ihre Mitglieder strotzen nur so vor Männlichkeit. Hier geht es immer darum, wer den größeren Schwanz oder das bessere Motorrad besitzt. Ganz zu schweigen von den Frauen...", ein schmunzeln zuckte über ihre Lippen und sie bohrte sich bis in Gabriels Gedanken mit ihrem Blick. 
Dieser wurde so langsam nervös. Sein Herz schlug ein wenig zu schnell und zu laut. 
"Was ich damit sagen möchte, ist..."
Sie beugte sich nach vorn, sodass Gabriels Blick direkt auf die lange, dünne Narbe in der Mitte ihres Busens fiel. Er schluckte den Kloß ein Stück hinunter und ermahnte sich erneut selbst, nicht auf die Narben anderer Leute zu glotzen. 

the Anarchy of the HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt