Kapitel 13 | Verlust

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"So, jetzt sind alle mal ruhig und setzen sich ordentlich auf ihre Plätze!", donnerte eine tiefe Stimme und jemand schlug ein schweres Buch auf das Pult am vorderen Ende des Klassenzimmers.
Mister Rogers, der neue Mathe Lehrer, hatte die Schnauze gestrichen voll. Ständig plapperten die Jungen und Mädchen wild durcheinander, wie ein Haufen schnatternder Gänse.
Die Klasse verstummte augenblicklich und alle Augen waren wieder nach vorn gerichtet.
Mit vor der Brust verschränkten Armen und einem Stück Kreide in der rechten Hand, stand der Neue vor versammelter Mannschaft und atmete erst Mal tief ein.
"Und jetzt setzt euch gerade hin. Wie alt seid ihr? Zehn?", er ließ den Blick über die Schüler schweifen und kniff leicht die Augen zusammen.
Ein paar der Mädchen schauten etwas eingeschüchtert drein, fummelten sich nervös an den Haarspitzen herum und wussten nicht, ob das eine echte oder eine rhetorische Frage war.
Die Jungs, manch einer noch recht klein geraten, hier und da jedoch bereits mit dem letzten Wachstumsschub in die Höhe geschossen, machten es ihm nach und verschränkten ebenfalls die Arme.
Es herrschte Stille.
"Möchte mir denn keiner antworten?", forderte sie Mister Rogers auf und streckte die Arme fragend von sich. Mit einem leicht triumphierenden Grinsen drehte er der Klasse wieder den Rücken zu und widmete sich der Tafel, als ein Junge im Stimmbruch hervor platzte.

"Wir sind vierzehn, Sir. Aber wenn Sie uns wie zehnjährige behandeln wollen, dann benehmen wir uns auch so!"
Die Klasse bebte vor Lachen, als Mister Rogers ein sehr präzise gezieltes Spuckekügelchen am Hinterkopf traf. Genau in die Mitte.
Der Lehrer erstarrte und ballte die Hände zu Fäusten, sodass ihm die Kreide zwischen den Fingern zerbrach.
"Mister Leith...", knurrte er mit unterdrückter Wut und drehte sich langsam wieder zurück zur Klasse, die beim Anblick der Ader auf Mister Rogers Stirn erneut verstummte.
"Du rennst jetzt besser", flüsterte die Nebensitzerin des Jungen, ein sehr hübsches, schwarzhaariges Mädchen.
Doch der Unruhestifter dachte gar nicht daran, hob seinen Strohhalm wie in Zeitlupe, während der Lehrer sicheren Schrittes auf ihn zuging.
Ehe sich dieser versah, klebte an ihm eine zweite Spuckekugel, dieses Mal jedoch mitten auf der Stirn.
"Ein Volltreffer!!", johlte die Klasse und konnte sich nun nicht mehr halten.
Unter tosendem Applaus wurde der Vierzehnjährige für seine grandiose Treffsicherheit gefeiert.
"INS BÜRO DES REKTORS!!! SOFORT!! DIESES MAL KOMMEN SIE NICHT SO EINFACH DAVON!!", brüllte Mister Rogers mit hoch rotem Kopf und die Ader auf seiner Stirn drohte zu bersten.
"Komm schon, Gabriel, geh lieber schnell!", zischte das schwarzhaarige Mädchen neben dem Schützen und knuffte ihm auf die Schulter, wobei sie vor ihrem Lehrer ein wenig in Deckung ging, da der beim Schreien spuckte...

Die Stirn in Falten gelegt, huschte Gabriel von seinem Platz, schnappte sich seine Tasche, die er den ganzen Morgen noch nicht ausgepackt hatte, und rannte flink zwischen den Tischen hindurch, zum Gang.
"UND SCHLIEßEN SIE DIE-"
Mit einem lauten Knall warf er die Klassenzimmertür hinter sich zu und grinste zufrieden. Hach, neue Lehrer auf die Palme zu bringen, das war einfach immer wieder ein Spaß.
Schmunzelnd warf er sich den schwarzen Lederrucksack über die Schulter und schlappte über den dunkelgrünen Teppichboden, der bereits an einigen Stellen mit einem hellgrünen Stück Teppich geflickt worden war.
An den Wänden links und rechts von ihm hingen Jacken in den Garderoben und das ein oder andere Gemälde, das die Schüler der Charming Middle-School im Kunstunterricht von Mrs. Martinez gemalt hatten, zierte die Flure.
Einige davon sahen sogar ganz passabel aus, konnte man meinen.
Gabriel blieb kurz an seinem Lieblingsgemälde stehen.
Es war das weitaus düsterste Bild von allen. Während die übrigen Kunstwerke seiner Mittelschulklasse zum Thema >Traum< einen roten Sportwagen, ein Haus mit Pool und Palmen oder ein buntes Einhorn zeigten, das durch einen Regenbogen sprang, war dieses eine Gemälde in schwarz und weiß gehalten.

Auf schwarzem Karton hatte der Künstler mit weißer Acrylfarbe eine Frau gemalt, die schützend ein Kind in den Armen hielt. Die Beiden schauten voneinander weg, der kleine Junge starrte hinauf zu einem einzelnen Flügel, der sich in die Höhe streckte, die Mutter senkte den Blick hinab auf ein Loch, das sich in ihrer Brust befand.
Seufzend berührte Gabriel das Glas, das das Bild vor dreckigen Fingern schützen sollte. Mit einem weißen Filzstift stand in der unteren, rechten Ecke
>Gabriel Leith, 07.03.2014<

the Anarchy of the HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt