Zwei Monate später

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Leise flüsternd raschelten die Bäume zwischen den Gräbern, warfen lange, löchrige Schatten auf die vom Wind und Wetter verfärbten Steine. 
Hier und da konnte man ein Eichhörnchen von Ast zu Ast huschen hören, während einem der Duft von frisch gemähtem Gras in der Nase lag. 
Grillenzirpen erfüllte die Landschaft mit Leben.
Die späte Septembersonne tauchte den Charming Memorial Friedhof in einen warmen, goldenen Schleier und der Wind spielte mit den ersten roten und gelben Blättern, die sich langsam von ihren Ästen stahlen.

Ein einsames, rotes Ahornblatt löste sich von einem der Bäume, tänzelte auf einem Windhauch durch die Luft und wiegte sich langsam hinab zur Erde, ehe es auf einem weißen Marmorgrabstein zum erliegen kam. 
Ein leises Schniefen ertönte von dem Jungen, der direkt davor stand. Sein Arm hing in einer Schlinge, die um seinen Hals gebunden war. 
Mit leicht ausgekühlten Fingern strich er sich eine Träne aus dem Gesicht, zupfte an den Spitzen seiner Haare und griff dann nach dem roten Blatt, das auf dem Grabstein vor ihm lag. 

In Gedenken an 
Anne Leith
Eine liebende Mutter.
Möge sie nie vergessen,
Stets geliebt,
Für immer gesegnet sein.

Direkt neben dem weißen Marmor, stand ein zweiter Grabstein, ganz in schwarz. 
Der Junge warf einen Blick darauf und blinzelte ein paar Mal. Er zog die Nase hoch und wandte den Kopf ab. Seine Tränen versiegten. Zu oft hatte er in letzter Zeit an genau dieser Stelle gestanden. Stundenlang.
Er konnte nicht auf die Inschrift schauen, die in den schwarzen Marmor gemeißelt war und doch kannte er sie auswendig. 

In Gedenken an
Peter Leith
Deine Schritte sind verstummt
Doch die Spuren deines Lebens bleiben.

Der Junge hörte ein Rascheln hinter sich, bewegte sich jedoch nicht vom Fleck. Vorbei waren die Tage, in denen er bei jedem Geräusch zudammen zuckte. Die Tage nach dem Unglück.

Er hatte gelernt mit der Tragödie zu leben, die ihm widerfahren war.
Er hatte gelernt mit dem Verlust zu leben.

Er genoss die kühle Brise, die den Herbst nach Charming brachte und die Tage endlich wieder kürzer werden ließ.

Das stetige Zirpen in den Grasbüscheln und Sträuchern vermischte sich mit dem leisen Schnaufen eines Mannes, der vorsichtig seine Arme um den Jungen legte. Starke Hände fanden die Seinen und legten sich schützend darum. 
Ein paar Augenblicke schwiegen Beide. 

"Hey Kleiner", brummte eine warme, honigsanfte Stimme schließlich neben Gabriels Ohr. 
Er schloss die Augen für einen Moment und hielt inne. Ein zaghaftes Schmunzeln zuckte um seine Mundwinkel und schenkte ihm wieder ein wenig Farbe um die Nase. Er drehte den Kopf langsam zur Seite und blickte in tiefblaue Augen. 
"Hey..."
"Lass uns nach Hause fahren. Heute ist dein großer Tag. Genug getrauert, du kannst morgen wieder her kommen", brummte Jax und zog sachte an Gabriels Hand. Dieser ließ sich widerstandslos von ihm ziehen, weg vom Grab seiner Eltern, bis an den Eingang des Friedhofes. 
Dort wartete Jax' Motorrad auf die Beiden. 
Schmunzelnd schwang sich der Blonde darauf und hielt Gabriel einen Helm hin. 
"Na komm", leicht grinsend half er ihm beim Aufsetzen, da sich das einarmig etwas schwierig gestaltete. Gabriel blinzelte Jax an und die Beiden betrachteten sich für eine Weile.
"Lass uns fahren, hm?" Unterbrach der Ältere die Stille und zwinkerte
Gabriel zu.
Der nickte wortlos und kletterte auf den Sitz hinter Jax, wo er der Arm um ihn legte und sich an seinem weißen Shirt fest hielt.

Am Clubhaus angekommen, ließ Gabriel nicht von Jax los. Er blieb wie versteinert sitzen, die freie Hand in den Stoff gekrallt, den Kopf an Jax Rücken gedrückt.
"Gab?" Jax hielt kurz inne und lachte leise. Vorsichtig drehte er sich ein wenig zu ihm herum so dass er ihn anschauen konnte.
"Sind wir etwa nervös? Das steht dir aber gar nicht."
Doch dazu war es schon zu spät. Gabriel war knallrot im Gesicht und er sah aus, als stünde er kurz vor einer Wurzelbehandlung. 
Jax verdrehte die Augen und stieg von der Harley. Er packte den Kleineren unter den Armen und half ihm auf die Füße.
Vorsichtig nahm er ihm den Helm ab und hängte ihn an den Lenker der Maschine.
"Sollte ich nicht vielleicht nervöser sein als du?"
Gabriel starrte ihn an und schüttelte energisch den Kopf.
"Sie kennen dich."
"Dich kennen sie doch auch...?"
"J-ja, aber..." Gabriel kaute auf seiner Lippe. "Aber das ist jetzt was anderes... Was, wenn sie mich so nicht mögen?"
Seufzend ließ Jax die Hände sinken und schaute direkt in Gabriels schwarze Augen. Mit einem aufmunternden Grinsen wuschelte er ihm durch die Haare.
"Clay hat mich noch nicht umgebracht. Sie werden schon damit leben können"

"Aber was wenn nicht...? Dann bin ich Geschichte."
"Hörst du jetzt auf?" Jax griff Gabriels Gesicht und hob sein Kinn ein wenig an. 
"Genug jetzt. Wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert."
Er legte den Kopf schief und kam ihm etwas näher. 
"Und jetzt zeig mir deine Beißerchen. Na los."
Jax selbst setzte ein überdimensioniertes Grinsen auf sein Gesicht, was Gabriel zum lachen brachte. Immer wenn Jax das machte, musste er sofort los lachen.

Vielleicht war das auch der Grund gewesen, warum er all das so einfach hinter sich lassen konnte. Dass alles, was passiert war, irgendwann nur noch aus Narben und einem schwarzen Grabstein bestand.
Nein, nicht vielleicht. Gabriel war sich sicher.
Er war sich so sicher, wie er sich lange nicht mehr einer Sache sicher gewesen war.
Jax war der Grund, dass er noch lebte. Und er war der Grund, warum er noch leben wollte.

In den letzten Wochen hatten die Beiden sehr viel Zeit miteinander verbracht. Jax hatte sich schuldig dessen gefühlt, was mit Gabriel in dem Verhörraum passiert war. Dass er danach beinahe nicht mehr aufgewacht wäre. Und dass es überhaupt so weit hatte kommen können.
Erst waren Beide der festen Überzeugung, dass seine Schuldgefühle der Grund waren, weshalb er dem Jungen kaum noch von der Seite wich, obwohl schon bald keine Gefahr mehr für ihn bestand.
Doch die Menschen um sie herum waren nicht blind.
Alle konnten sehen, wovor Jax sich versteckte.  
Es hatte nicht sehr lange gedauert, vielleicht drei oder vier Wochen, da fand sich Jax plötzlich in mehreren Gesprächen mit Juice, Opie und Gemma wieder. Sie alle versuchten ihm die Augen zu öffnen und ihn klar sehen zu lassen.
Doch innerlich wehrte er sich dagegen, bis zu dem Tag, an dem Gabriel genug von all dem hatte. Er hörte plötzlich auf, mit Jax zu reden. 

Er sperrte ihn aus, ließ ihn nicht mehr in das Haus seines Vaters, in dem er weiterhin wohnte. 
Gabriel hatte das Spiel nicht mehr länger mitmachen können.

Er selbst war sich lange schon der Umstände bewusst gewesen.
Er selbst hatte es bereits am Tag des Unglücks gewusst.

Er hatte gespürt, welche Anziehungskraft der Blonde auf ihn hatte.
Wie seine blauen Augen die seinen durchbohrten, ohne es auch nur zu versuchen.

Doch Jax hatte seine plötzliche Abneigung gegen ihn nicht verstanden. Er war wütend geworden, hatte seinen Groll im Alkohol ertränkt und wäre beinahe vom Dach der Teller und Morrow Werkstatt gestürzt, wäre es nicht Clay Morrow gewesen, der ihn davor bewahrte.
In dieser Nacht hatte er sich ihm offenbart, seinem President.

Er hatte ihm seine Wut über sich selbst offenbart, seine Schuldgefühle und seine Angst.

Seine Angst, den Jungen ein zweites Mal zu verlieren. Dieses Mal für immer.
Doch seine Angst war unbegründet.
Selbst Clay Morrow konnte sehen, was mit Jax los war. 
Jax selbst jedoch, war derjenige gewesen, der es zuletzt begriffen hatte. 

...

Gabriel schaute zu dem Blonden hinauf, fuhr sich durch die schwarzen Haare, die der Helm platt gedrückt hatte, und griff nach der Hand des Vize. 
Ein warmer Schauer lief ihm den Rücken hinab.
"Okay..."
Er holte tief Luft und sah zum Eingang des Clubhauses.
"Lass uns meinen Geburtstag feiern... zusammen."
Die Beiden sahen sich erneut in die Augen und Jax nickte.
Sein Lächeln war frei. 
Furchtlos. 
"Mit der Familie", murmelte Gabriel.
"Mit der Sam Crow Familie", bestätigte Jax. 

 

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the Anarchy of the HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt