Es ist weit nach Mitternacht, als ich eintrete, um das Fenster zu öffnen.
Er sitzt dort, wo er immer sitzt, bis die Worte ihn am Ende de Nacht wieder frei geben-
Die Oberfläche des Schreibtischs ist bedeckt mit Papierbögen
und die Schreibfeder hätte von etwas weiter weg betrachtet die sechste Kralle seiner linken Hand sein können.
Er sitzt so regungslos da, dass nicht einmal der alte Schreibtischstuhl knarrt.
In diesem Moment ist er mir so fremd, dass es fast wehtut, ihn anzusehen.
,,Lass die Fenster geschlossen,
Kleines."
Er sieht nicht einmal auf, als er mit mir spricht. Seine Hand deutet auf den Fenstergriff, den ich hastig loslasse.
,,Es ist warm hier drinnen", murmele ich.
Tatsächlich frage ich mich, wie er in dieser schwülen Sommernacht überhaupt arbeiten kann.
Ich habe das Schreiben mit dem ersten Blühen der Krokusse eingestellt.
,,Darum geht es nicht."
Das Kratzen der Feder auf dem Papier bricht ab. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er den Bogen beiseite legt und eine unbeschriebene Seite zu sich heranzieht.
,,Es sind jetzt schon zu viele traurige Gedanken hier drin,
was soll ich jetzt auch noch mit denen, die von draußen hereinkommen?"
Er taucht die Feder in die Tinte,
lässt sie kurz abtropfen, schreibt einen Satz und benetzt die Feder erneut.
Es ist hypnotisch, ihm zuzusehen.
,,Woher wisst Ihr, dass nicht auch traurige Gedanken nach draußen entkommen, wenn man das Fenster öffnet? Dann wäre sogar weniger Traurigkeit im Raum als vorher."
Ich weiß nicht, warum ich das sage. Vielleicht, weil ich nicht wieder diejenige sein will, die mit guten Absichten in sein Zimmer kommt und sofort wieder hinausgeschickt wird. Vielleicht, weil ich noch nicht müde genug bin, um schlafen zu gehen. Vielleicht aber auch, weil er so einsam aussieht zwischen all den toten Worten. Es gibt nichts Lebendiges in seiner Kammer unter dem Dach.
Wenn ich jetzt gehe,
wäre der Raum wieder so leblos wie vorher, und er säße mittendrin,
ein einzelnes schlagendes Herz inmitten von schweigenden Worten.
,,Weiß du, was das Besondere an der Traurigkeit und dem Glück und dem ganzen anderen Unsinn ist?"
Er sieht mich an, zum ersten Mal an diesem Abend sieht er mir direkt ins Gesicht. Falls ich eine Antwort hatte, ist sie verschwunden, sobald der Blick der beiden Katzenaugen mich trifft.
,,Nein, das weiß ich nicht", flüstere
ich, plötzlich heiser.
,,Du kannst sie nicht messen, du kannst überhaupt nichts tun,
um sie aufrechtzuerhalten oder auch nur etwas länger als möglich festzuhalten.
Du kannst es versuchen, und sie haben es versucht, all die Idioten da draußen, und trotzdem sind sie heute keinen Deut glücklicher als früher.
Nicht einmal ein Lachen kann man messen. Zählst du, wie oft du am Tag lachst?"
Ich denke tatsächlich kurz über die Frage nach, bevor ich stumm den Kopf schüttele, weil jede andere Antwort gelogen wäre.
,,Da siehst du es. Die Traurigkeit hängt in diesem Zimmer wie ein Schleier knapp über dem Boden oder meinetwegen wie ein ruheloser Geist unter der Decke.
Für meine Worte reicht das, sie ernähren sich davon.
Egal, was man tut, um etwas an diesem Zustand zu ändern, es würde nur noch mehr Traurigkeit bedeuten."
Er sieht mich an, aber gleichzeitig sieht er durch mich hindurch, sieht Menschen und Orte und Texte, die ich nicht kenne. Die Spitze seiner Feder verharrt über dem Paper.
Rote Tinte. Seit ich ihn kenne, hat er nie eine andere benutzt.
Und ich weiß nicht, ob dieser letze Satz an mich gerichtet ist.
,,Es ist nie gut, trauriger zu sein, als man muss."
Bricht seine Stimme?
Natürlich nicht.
Trotzdem hört es sich so an.
Er sperrt mich aus, kaum, dass er aufgehört hat, zu reden.
Er sieht mich nicht mehr an und errichtet seine Worte wie einen Schutzwall, der knapp an der Schreibtischkante entlang verläuft.
Es ist, als hätte er vergessen, dass ich überhaupt da war.
Ich brauche keine Aufforderung, um zu gehen.
Ich flüchte aus dem Raum, als hätten die Worte sich von den Pergamenten erhoben und würden mir als Untote nach dem Leben trachten.
Ich schließe die Tür viel zu laut, schlage sie fast zu.
Mit Tränen in den Augen laufe ich die Treppe nach unten.
Und ich frage mich, wovon sich meine Worte ernähren.
DU LIEST GERADE
Splitterwelten
Poetry....... Meine Welt in Scherben. Meine Worte gespiegelt. Meine Gedanken zerschnitten. Meine Tinte ist rot. Das hier sind Wortfetzen, mitten aus der Luft gerissen Gedankengänge, die mich überholt haben Kurzgeschichten, die irgendwo anfangen und ni...