Vier

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„Ich werde heute erst später nachhause kommen", sage ich zu Helen, die mir gegenüber am Tisch sitzt.

„Wieso dass denn?", fragt sie mich neugierig.

„Ein paar Kollegen gehen noch einen Kaffee trinken und ich bin auch mit von der Partie", erkläre ich ihr.

Wieso ich sie anlüge, weiß ich nicht so genau, aber ich fühle mich schlecht dabei. Irgendwie will ich nicht, dass Helen über Leslie Bescheid weiß. Natürlich weiß Helen, dass ich damals in meine Englischlehrerin verliebt war, aber ich habe ihr nie genaueres erzählt. Leslie Baltes ist mein Geheimnis. Meine Gefühle für sie sind ein Geheimnis, das ich mit niemand teilen möchte.

„Willst du da wirklich hin? Das wird doch bestimmt richtig langweilig", meint meine Freundin.

„Ich will mich mit den anderen verstehen, also ja", erwidere ich und trinke den letzten Schluck aus meiner Kaffeetasse. „Außerdem sehen wir uns doch heute Abend wieder. Du musst nicht eifersüchtig sein."

Wenn Helen wüsste mit wem ich mich wirklich treffe, dann wäre sie sicherlich eifersüchtig ohne Ende. Ich werde ihr irgendwann sagen, dass meine Jugendliebe noch an der Schule ist. Ich werde ihr wohl bald auch sagen müssen, dass ich wieder an meiner alten Schule unterrichte. Es gibt in der Stadt mehr als eine Schule und bisher hat Helen noch nicht nachgefragt. Wahrscheinlich geht sie davon aus, dass ich es ihr sagen würde, wenn es so wäre. Ich sollte das wirklich bald tun. Je länger ich es hinauszögere, desto schwerer wird es und desto mehr verletzt es Helen, dass ich sie angelogen habe. So ein Mist.

„Ich bin nicht eifersüchtig. Schließlich weiß ich doch, dass du mich liebst", sagt sie und lächelt mich frech an.

„Bist du dir da wirklich sicher?", necke ich sie.

Ich stehe auf und stelle meine Tasse in die Spüle und nehme mir einen Apfel von der Kücheninsel. Plötzlich spüre ich Helens Arme um meiner Hüfte. Sie zieht mich an sich und küsst meinen Hals.

„Zu einhundert Prozent", meint sie und lacht leise.

„Hm", gebe ich von mir und streichele über ihre Arme. „Das ändert aber nichts daran, dass ich arbeiten muss und du auch."

„Erinnere mich bloß nicht daran. Ich habe heute überhaupt keine Lust. Ich bin auf das Angebot eingegangen als Hochzeitsfotografin auf einer Hochzeit von Superreichen zu fotografieren", erzählt sie mir genervt.

„Das wird bestimmt toll. Hochzeiten sind was schönes", sage ich und drehe mich zu ihr um.

„Naja, dass kommt immer auf die Hochzeit und die Leute an. Diese wird mir bestimmt nicht gefallen."

„Du weißt doch noch gar nichts. Sei mal nicht so negativ", sage ich und wickele mir eine ihrer braunen Locken um den Zeigefinger.

„Ich habe ja keine andere Wahl", murmelt sie.

Ich muss lachen und drücke Helen einen Kuss auf die Wange. Sie jammert im Voraus immer gerne, aber eigentlich ist es meist gar nicht so schlimm. Sie übertreibt nur gerne.

„Ich muss jetzt echt los", nuschele ich und küsse sie, ehe ich mich von ihr löse und die Wohnung verlasse.

„Okay, bis später", verabschiedet Helen sich von mir.

„Tschüss", rufe ich im gehen.

Ich fahre mit meinem Auto viel zu schnell durch die Straßen, da ich schon zu spät bin. Bestimmt denken einige der Schüler bereits, dass ich krank bin oder freuen sich auf eine Freistunde. Diese Hoffnung wird sich leider nicht erfüllen.

Der Schultag war mehr oder weniger ereignislos. In der 5c habe ich eine Englischarbeit geschrieben, was für mich bedeutet hat, dass ich quasi nichts zu tun hatte. Die Zeit wollte mein Hirn unbedingt dazu nutzen, um über das Treffen heute Nachmittag mit Leslie nachzudenken. Ich habe mir so viele Gedanken gemacht, dass ich jetzt wo es so weit ist, beinahe durchdrehe.

„Hey", begrüßt Leslie mich, als sie im Lehrerzimmer auftaucht.

Auch heute sieht sie perfekt aus. Ihre blonden Haare trägt sie offen, sodass sie ihr über die Schultern fallen. Mir fällt wieder einmal auf, wie lang ihre Haare sind. Sie reichen ihr bis fast an die Hüfte. Eine dunkle Jeans, ein grauer Pullover, ein Trenchcoat und Stiefeletten bilden ihr heutiges Outfit. Es passt zu ihr. Sie sieht toll aus. Eigentlich tut sie das immer.

„Hi", erwidere ich mit einem blöden Grinsen im Gesicht.

Ich beobachte Leslie dabei, wie sie ein paar Sachen in ihrem Fach verstaut. Schnell sehe ich weg, als sie sich umdreht. Ich muss total gestarrt haben. Wie peinlich. Hoffentlich ist es niemand aufgefallen.

„Und bist du so weit?", erkundigt sie sich bei mir.

Nein, bin ich nicht. Ich sage trotzdem ja, weil ich wohl nie hier für bereit sein werde. Ich habe mir nie erträumt, dass ich mal alleine mit Leslie Baltes Zeit verbringen würde. Sie war schließlich meine Lehrerin. Früher wollte ich nichts mehr als mit ihr alleine zu sein, aber das war ich natürlich nie. Auch heute klopft mein Herz viel zu schnell und ich bin unendlich nervös. Wieso überhaupt? Es sind sechs Jahre vergangen, seitdem ich Leslie das letzte Mal gesehen habe. Seitdem ich in sie verliebt war. Ich weiß noch nicht mal, ob ich überhaupt noch was für sie fühle. Das ist alles so verrückt.

„Klar. Lass uns gehen", sage ich.

Leslie schenkt mir ein Lächeln und wir verlassen das Lehrerzimmer. Ich weiß nicht so recht was ich sagen soll, meine Gedanken haben sich alle aus dem Staub gemacht. In meinem Kopf herrscht eine gähnende Leere. Angestrengt versuche ich Leslie nicht zu sehr zu beobachten, was mir nicht besonders gut gelingt. Meine Blick wandern immer wieder zu ihr. Wie sie sich die Haare hinters Ohr streicht, am Träger ihrer Tasche herumspielt und ihre perfekten Lippen. Oh verdammt. Was ist nur los mit mir??

Es fühlt sich an, als wäre ich in eine Zeitmaschine gestiegen und wieder die neunzehnjährige, die ihre Lehrerin aus der Ferne beobachtet, weil sie sich nicht traut sie an zu sprechen. Mein Herz pocht so verrückt, wie damals. Zumindest gehe ich davon aus. Ich kann mich nicht mehr zu einhundert Prozent daran erinnern.

„Frau Schiller?"

Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen und Mina taucht neben mir auf. Es macht den Eindruck, als wäre sie gerannt.

„Mina, es ist Schulschluss. Was gibt es denn noch?", will ich von ihr wissen.

Dieses Mädchen ist ein wenig nervig.

„Kann ich Sie noch etwas fragen?", bittet sie mich.

Ich sehe Leslie an, die aber lediglich mit den Achseln zuckt. Bestimmt kennt sie solch nervige Schüler.

„Das kann sicher noch bis morgen warten", erwidere ich und lasse Mina stehen.

Im Moment möchte ich so viel Zeit wie möglich mit dieser tollen Frau verbringen, die mich auf einen Kaffee eingeladen hat. Mina und ihre nervigen Fragen können bis morgen warten.

„Tut mir leid", sage ich zu Leslie und blicke sie entschuldigend an.

„Ist nicht schlimm", meint sie. „Mina scheint ziemlich von dir angetan zu sein."

„Keine Ahnung. Lass uns einfach schnell gehen, bevor uns noch mehr Schüler ansprechen."

„Ja", stimmt Leslie mir lachend vor.

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